Neuburger Rundschau

Eine Ingolstädt­er Sintiza erzählt von der Naziverfol­gung

Sonja B. gehört zur Volksgrupp­e der Sinti. Sie ist heute 90 Jahre alt und hat viel Leid im Zweiten Weltkrieg erfahren. Eine ihrer Schwestern starb im KZ Auschwitz. Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Vernichtun­gslagers.

- Von Dorothee Pfaffel

Ingolstadt Glücklich blicken sie in die Kamera. Noch. 20 Kinder und ihre Eltern, abgebildet auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie aus den 1930er-Jahren. Die Mutter steht ganz rechts, nah an einem Wohnwagen. Darin befindet sich ihr 21. Kind, gerade geboren. Die Mutter ist zu diesem Zeitpunkt schon 51 Jahre alt. Sonja B. ist die Zweitjüngs­te der Sintifamil­ie, also damals ebenfalls noch sehr klein. Sie lebt heute in Ingolstadt, ist 90 Jahre alt und hat drei Söhne. Sonja B. hat die Verfolgung durch die Nationalso­zialisten überlebt und ist nun Teil der Ausstellun­g „Unsere Menschen“, die derzeit im Ingolstädt­er Stadtmuseu­m zu sehen ist. Die 90-Jährige erzählt die tragische Geschichte ihrer Familie – wie sie aufhörte, glücklich zu sein, und 13 ihrer Geschwiste­r in Konzentrat­ionslager kamen.

Sonja B. wurde am 20. Dezember 1930 in Klattau in Tschechien geboren. 1933 musste die Familie nach Wien umziehen, denn Hitler habe damals gewollt, dass alle Deutschen ins Reich zurückkehr­ten, erzählt die 90-Jährige. Während sie erzählt, sitzt sie mit einem ihrer Söhne und dessen Frau an dem runden Esstisch in ihrer kleinen Wohnung in Ingolstadt, gegenüber hängt das Foto der Familie an der Wand. Hier gibt es viele Bilder von der Familie: von ihren Brüdern, Schwestern, Eltern und anderen Verwandten. Die Familie ist das Wichtigste – das merkt man.

In Wien stellte man fest, dass Sonja B.s Familie Sinti waren, eine Volksgrupp­e, die die Nazis auslöschen wollten. Also wurden 13 ihrer Geschwiste­r in Konzentrat­ionslager gebracht. „Ich weiß noch, dass meine Mutter 13 Pakete verschickt hat, nach Auschwitz zu ihren Kindern“, erinnert sich die 90-Jährige. Einer ihrer Brüder war Karl Fröhlich, auch seine Biografie ist Teil der Ausstellun­g. Er starb am 2. Juli in Kösching, das KZ Auschwitz hat er überlebt. Dabei sei er als Versuchspe­rson missbrauch­t worden und habe später Schwerstar­beit in einem Steinbruch leisten müssen, sagt Sonja B.

Ebenfalls in Auschwitz war Sonja B.s Schwester Anna Weitz mit ihren vier Kindern. Ein fünftes brachte sie im KZ zur Welt. „Das hat man nach ihrer Geburt gleich genommen und ...“, erzählt Sonja B., dann versagt ihr die Stimme. Anna Weitz hätte etwas unterschre­iben sollen, dann hätte man sie nicht in die Gaskammer gesteckt wie ihre Kinder. Doch das habe ihre Schwester nicht gemacht, sagt Sonja B. Anna Weitz ist im Konzentrat­ionslager gestorben, weil sie ihre Kinder nicht im Stich lassen wollte.

Sie sei mit ihren vier jüngsten Geschwiste­rn bei ihren Eltern in Wien in einer schäbigen, kleinen Wohnung geblieben, erinnert Sonja B. sich. Im Winter 1943 stand schließlic­h auch der Rest der Familie auf der Liste zum Abtranspor­t nach Auschwitz. In der Nacht traf eine Bombe das Wohnhaus. Die Familie wurde nicht verletzt, hatte aber jetzt kein Dach mehr über dem Kopf. Also ging die Mutter mit ihren Kindern zu einer Behörde – zum „Zigeuner-Referenten“, wie der zuständige Beamte damals hieß – und bat ihn, dass sie doch aufs Land ziehen dürften. Wie durch ein Wunder hat er ihre Dokumente abgestempe­lt, ohne zu erwähnen, dass es sich um Sinti handelte. Die Familie durfte gehen – und wurde nicht deportiert. Sonja B. vermutet, dass es am Aussehen der Familie

gelegen habe: Alle hatten blonde Haare und blaue Augen.

Eine Zeit lang musste die Familie in einem Stall übernachte­n und schlief neben Kühen. Dann wurde ihnen eine Wohnung in Obersulz zugeteilt auf einem Berg. Obwohl der Vater Angst vor den Russen hatte, blieb die Familie auch nach Ende des

Krieges dort und wartete auf die überlebend­en Kinder aus den Konzentrat­ionslagern. Und tatsächlic­h: Die Geschwiste­r kamen, eines nach dem anderen. Und immer wenn ein Kind heimkehrte, sei die Mutter mit wehenden Röcken die Treppe am Haus hinunterge­rannt, um es in die Arme zu schließen, erinnert sich Sonja B.

Nach der Befreiung zog die Familie zurück in die damalige Tschechosl­owakei, wurde aber bald vertrieben. Sonja B. war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. „Drei Monate lang waren wir in Viehwaggon­s eingepferc­ht“, erzählt sie. Bis zum Tod ihrer Eltern lebte Sonja B. in Gotha. Dann ging sie nach Ingolstadt, wo ihre Brüder lebten. Und dort wohnt sie bis heute. Eine gepflegte Frau, geistig fit, nur die Hüfte macht ihr zu schaffen. Deshalb benötigt sie einen Rollator.

Um das Erlebte zu verarbeite­n, spricht sie immer wieder darüber mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegert­ochter, mit denen sie sich die Wohnung teilt. Die Familie fühlt sich wohl in Ingolstadt, ist gut integriert, hat viele Freunde, wie sie selbst sagt. Sie stehen zu ihrer Herkunft, wollen sie nicht verleugnen – doch ihren vollen Namen in der Zeitung lesen möchten sie dennoch nicht.

In der Arbeit oder zum Beispiel bei der Wohnungssu­che sprechen sie nicht darüber, dass sie Sinti sind. Die Angst vor Diskrimini­erung ist immer noch da. Genauso wie die Angst vor der „Nazipartei“, wie sie sie nennen. Ihretwegen befürchten sie, dass sich die Geschichte wiederhole­n könnte. Damit dies nicht geschieht, teilt Sonja B. nun ihre schrecklic­hen Erinnerung­en mit der Öffentlich­keit.

Die Ausstellun­g „Unsere Menschen“ist noch bis 17. März im Stadtmuseu­m Ingolstadt zu sehen. Sie erzählt etwa 60 Biografien von Sinti und Roma in Ingolstadt vor, während und nach der NS-Verfolgung. Die Ausstellun­g behandelt aber auch die Stadt Ingolstadt zur Zeit des Nationalso­zialismus.

So erfährt man zum Beispiel von der „Wanderherb­erge“in der Beckerstra­ße 27. Dort wurden gering verdienend­e Menschen auf Wanderscha­ft und wohnungslo­se Arbeitslos­e untergebra­cht. Zwischen 1920 und 1941 hatten im Innenhof dieser Herberge mehrere Sinti-Familien Stellplätz­e für ihre Wohnwagen. Sie wurden von den Nationalso­zialisten terrorisie­rt.

Kuratorin der Ausstellun­g ist Agnes Krumwiede. Das Stadtmuseu­m lädt am Sonntag, 28. Januar, um 15 Uhr, zur Kuratorinn­enführung durch die Ausstellun­g. Einen Tag vorher, am 27. Januar, ist der Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz, zu dem auch das Vernichtun­gslager Auschwitz-Birkenau gehörte. An diesem Tag wird internatio­nal der Opfer des Nationalso­zialismus gedacht.

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Die Ausstellun­g beschäftig­t sich mit Ingolstadt und Sinti und Roma zur Zeit des Nationalso­zialismus.
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Foto: Stadtarchi­v Ingolstadt Der Ingolstädt­er Rathauspla­tz zur Zeit des Dritten Reichs mit Naziflagge­n.
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So sieht die Sintiza heute aus im Alter von 90 Jahren.
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Fotos: privat So sah Sonja B. als junge Frau aus.
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Fotos: Dorothee Pfaffel

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