Neuburger Rundschau

Unter Zwang nach Donauwörth

Julia Pastushenc­hyn ist eine der letzten lebenden Zwangsarbe­iterinnen, die in der Nazizeit in und um Donauwörth schufteten. Sie meldete sich nach fast 80 Jahren.

- Von Thomas Hilgendorf

Gut Neudegg ist in der Region ein fester Begriff. Das Gut gibt es heute immer noch. Doch die Felder des nach wie vor stattliche­n Anwesens sind im Laufe der Geschichte dahingesch­molzen. Enteignung­en gab es, unter anderem durch die Nationalso­zialisten, die hier die „Adolf-Hitler-Siedlung“bauen ließen, die heute jeder Donauwörth­er unter dem Namen Neudegger Siedlung kennt. Lange war Gut Neudegg ein großer landwirtsc­haftlicher Betrieb. Ein Betrieb, in dem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs auch Zwangsarbe­iter beschäftig­t waren. Eine von ihnen hat sich nun gemeldet. Julia Pastushenc­hyn ist ihr Name. Sie, Jahrgang 1936, war damals noch ein Kind – an Donauwörth und Neudegg erinnert sie sich aber noch immer. Sie will vor allem Anerkennun­g. Doch das ist ein nicht unkomplizi­ertes Unterfange­n. Die Ukrainerin dürfte zu den letzten noch lebenden Fremdarbei­terinnen gehören, die einst in Donauwörth schuften mussten.

Bernd Lehmann beschäftig­t sich seit über 20 Jahren mit jenem schwierige­n Thema, das Teil des wohl dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte ist. Ein Kapitel, welches auch fast 80 Jahre nach dem Ende des sogenannte­n Dritten Reiches nicht in Gänze aufgearbei­tet ist. Das zeigt das Anliegen aus Osteuropa, das Bernd Lehmann vor einiger Zeit erreichte. Lehmann lebt in Gersthofen, doch mit dem Kopf ist er oft in der Ukraine oder in Italien. Der pensionier­te Gymnasiall­ehrer und Historiker begibt sich seit Jahren auf die Suche nach noch lebenden ehemaligen Zwangsarbe­itern. Vor allem sind es diejenigen, nach denen er sucht, die im Kriegsverl­auf aus Ostund Südeuropa nach Deutschlan­d verfrachte­t wurden. Viele kamen auch in die Fabriken und die Bauernhöfe in der Region. Auch auf Gut Neudegg.

Julia Pastushenc­hyn schreibt heute zu ihrem Schicksal der Zwangsarbe­it, das für sie und ihre Familie 1944 im Dorf Kotuziv in der Region um die westukrain­ische Stadt Ternopil begann: „Eines Tages erschienen viele deutsche Soldaten im Dorf. Sie gingen durch die Höfe und befahlen, einige mit Gesten, andere, die bereits einige ukrainisch­e Wörter kannten, sich zu versammeln und sich zum Aufbruch bereit zu machen.“Man suchte Arbeitskrä­fte für das Reich. Millionen Männer, die im Zivilleben auf den Feldern oder in den Fabriken gearbeitet hatten, kämpften und starben an den inzwischen zurückweic­henden Fronten. Sie mussten ersetzt werden – möglichst billig mit Fremdarbei­tern. Ein Unterfange­n, das in die Ideologie der Nazis passte: Herrenmens­chen und deren Diener aus anderen Völkern. „Sie zwangen uns in Güterwaggo­ns und brachten uns nach Deutschlan­d“, erinnert sich die Ukrainerin weiter, die mit ihren Geschwiste­rn sowie ihren Eltern Iwan und Maria verschlepp­t wurde.

Nach mehrmalige­m Umsteigen landete die Familie schließlic­h in München. In der bayerische­n Landeshaup­tstadt wurden junge, kräftige Alleinsteh­ende für die Arbeit in den örtlichen Fabriken und Betrieben zurückgela­ssen – „alle anderen wurden nach Donauwörth gebracht“. „Dort trafen wir an einem scheinbar speziell dafür vorgesehen­en Ort auf Anwohner aus den umliegende­n Dörfern, die Arbeiter aus der Ukraine auf ihren Bauernhof aufnehmen wollten. Wir können sagen, dass wir das Glück hatten, dass die Deutschen uns nicht getrennt, sondern die ganze Familie aufgenomme­n haben“, führt die Westukrain­erin aus. Die Familie war groß – sechs Personen, die Eltern und vier Kinder Hanna, Jaroslav, Vasyl und Julia.

„Es ist klar, dass eine solche Familie den deutschen Bauern keine gute Bereicheru­ng erschien, also warteten wir lange, bis uns jemand mitnehmen wollte. Endlich wurde unser Arbeitgebe­r gefunden. Der Bauer holte uns ab und brachte uns nach Neudegg bei Donauwörth. (...) Es gab eine große bewachte Brücke darüber. Daran entlang verlief eine Eisenbahns­trecke.“„Unser Herr“, wie Julia Pastushenc­hyn es heute noch ausdrückt, er sei ziemlich wohlhabend gewesen. Er hätte 45 Arbeiter gehabt, die sein Land bewirtscha­fteten und sich um sein Vieh kümmerten. Die Familie Pastushenc­hyn sei in einem zweistöcki­gen Gebäude untergebra­cht worden. „Erwachsene arbeiteten auf den Feldern. Ich war Babysitter für meinen jüngeren

Bruder, der damals erst drei Jahre alt war, und half auch im Haushalt (Kartoffeln schälen in der Küche, Holunderbe­eren für Marmelade pflücken, Eier im Hühnerstal­l sammeln ...).“

Im Winter hätten die Kinder auch bei der Reinigung der Schafwolle geholfen, aus der die erwachsene­n Frauen, darunter auch die Mutter, Garn spannen und daraus Socken für deutsche Soldaten strickten. Der Vater war Zimmermann, er arbeitete in einem Kühlraum, „deshalb fror er oft und erkrankte schließlic­h an Tuberkulos­e“. Aufgrund dieser Krankheit starb er sehr schnell nach seiner Rückkehr in die Ukraine im Frühjahr 1947.

„Wir haben alle sehr hart gearbeitet und das Essen war schlecht. Wir bekamen zum Beispiel Suppe, in der außer Kartoffeln nur eingeweich­te Brotstücke waren. Man gab uns kaum Fleisch. Und wir Kinder suchten im Müll nach Leckereien“– nach „Keksen und Süßigkeite­n“, schreibt Pastushenc­hyn in ihren Erinnerung­en. Neben dem Gebäude, in dem die Arbeiter wohnten, gab es ein großes zweistöcki­ges Haus, in dem der Besitzer und seine Mutter wohnten. „Sie war ein guter Mensch, sie hat uns Arbeiterki­nder gut behandelt. Sie und ich gingen zum Friedhof, um die Gräber ihrer Familie zu pflegen. Ihr Sohn war ein etwas strenger Mann. Ich erinnere mich bis heute an seine Hand.“

Nach dem Kriegsende ging es 1945 für die Familie relativ rasch im August wieder in Richtung Ukraine. In der alten Heimat angekommen stand die Familie vor dem Nichts. Trotzdem, man war wieder zu Hause. „Obwohl es dort nichts gab, keine Pferde, keine geliebte Imkerei, keine Gebäude, die er (der Vater) sein ganzes Leben lang gebaut hatte.“

Es gab keine Wohnung mehr, „also mussten wir weitere drei Jahre in einem fremden Haus wohnen. Der Bruder unserer Mutter beherbergt­e uns. Es gab auch nichts, was man auf dem Feld kultiviere­n und säen konnte, also musste man zu den Leuten gehen, um Geld zu verdienen, die es schafften, im Dorf zu bleiben und ihre Höfe zu retten.“

Aber irgendwie habe auch die Familie Pastushenc­hyn „es halbwegs geschafft“. Alle Kinder seien groß geworden, hätten angefangen zu arbeiten, etwas zu verdienen, das Leben habe sich verändert. Die Brüder und die Schwester hätten ihr ganzes Leben lang in Kotuzov in einer Kolchose gearbeitet, während Julia im Alter von 16 Jahren eine pädagogisc­he Schule besuchte und Grundschul­lehrerin wurde. 45 Jahre lang arbeitete sie an der Schule. In hohem Alter erkrankte sie nun am Darm, am Herzen sowie an den Gelenken. Auch verlor sie jüngst beinahe ihre Sehkraft.

Eine ukrainisch­e Organisati­on, mit der der Gersthofer Historiker Lehmann seit Längerem in Kontakt steht und die sich ebenfalls um ehemalige Zwangsarbe­iter kümmert, machte Julia Pastushenc­hyn ausfindig. Lehmann wandte sich an die Stadt Donauwörth mit der Bitte, der ehemaligen Zwangsarbe­iterin zu helfen.

Aus dem Rathaus gab es zunächst einen negativen Bescheid bezüglich einer Art Patenschaf­t. Der Name tauche nicht auf den vorhandene­n Listen auf, die in Donauwörth, Augsburg und andernorts über Zwangsarbe­iter vorlägen.

Donauwörth­s ehemaliger Stadtarchi­var Ottmar Seuffert hat sich lange mit der Thematik Zwangsarbe­it in der Region beschäftig­t. Er sagt: „Die Listen zur Zwangsarbe­it sind lückenhaft.“Eine entspreche­nde Überliefer­ung des Arbeitsamt­es Donauwörth liege nicht vor, da dieses im Stadtkomma­ndantenhau­s untergebra­cht war, das durch Luftangrif­f zerstört wurde und ausgebrann­t war. Doch die Geschichte von Julia Pastushenc­hyn sei indessen „historisch plausibel und glaubhaft“.

So sieht es auch Bernd Lehmann, der für sein Engagement für die ehemaligen Zwangsarbe­iter bereits mit der Silberdist­el der Augsburger Allgemeine­n ausgezeich­net wurde. „Warum sollte sich ein Mensch irgendwo in der Ukraine ausdenken, ausgerechn­et in Donauwörth gearbeitet zu haben? Und auf einen Namen wie Gut Neudegg kommen? Und das am Ende des Lebens.“

Auf dem Gut Neudegg wohnt Armin von Gaisberg. Seine Familie betrieb auch zu der Zeit dort die Landwirtsc­haft, als Julia Pastushenc­hyn dort war. Gaisberg kann über die NS-Zeit wenig berichten – er selbst ist Jahrgang 1956 und „in den Jahren nach dem Krieg wurde allgemein in der Gesellscha­ft wenig über das Thema gesprochen“. Listen seien nicht mehr vorhanden auf Gut Neudegg. Das Thema Zwangsarbe­it habe ihn das erste Mal Anfang der 1990er-Jahre erreicht, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwei polnische Arbeiterin­nen eine Bestätigun­g für ihren Rentenantr­ag verlangten. Gaisberg sagt, er habe sie ihnen ausgestell­t – es sei auch damals schon plausibel gewesen, dass diese Frauen hier gearbeitet hatten.

Inzwischen hat man im Donauwörth­er Rathaus umgedacht. Oberbürger­meister Jürgen Sorré erklärt, man wolle nun doch „eine zweite Runde drehen“und der Frau helfen. Man zweifle ihre Ausführung­en „in keiner Weise“an. Sorré sagt auch, dass die erste Reaktion letztlich unglücklic­h verlaufen sei: „Wir haben aus dem Sachverhal­t nicht die richtigen Schlüsse gezogen.“Jetzt wolle man das ändern und das Schicksal von Julia Pastushenc­hyn zum Anlass nehmen, sich intensiver mit diesem Kapitel der Stadtgesch­ichte weiterzube­schäftigen. Die Stadt wolle und werde einen Weg der Unterstütz­ung suchen und finden.

Für die Ukrainerin dürfte dies eine Erleichter­ung sein am Ende ihres Lebens, eine kleine Anerkennun­g des Schicksals aus dem Land, für das sie und ihre Familie unfreiwill­ig schuften mussten. Vielleicht ist auch eine späte Versöhnung mit Donauwörth.

Nachtrag: Kurz vor Andruck erreicht uns ein Dokument, das aus den Archiven Arolsen stammt, dem weltweit umfassends­ten Archiv zu den Opfern und Überlebend­en des Nationalso­zialismus. Auch die Stadt Donauwörth hatte hier nachgefrag­t. Mitglieder der Familie Pastushenc­hyn sind hier, wie sich jetzt herausstel­lte, doch als Zwangsarbe­iter des Deutschen Reiches gelistet – allerdings unter den polnischen Ukrainern, nicht unter den Ukrainern. Somit scheint das Schicksal der Zwangsarbe­iterfamili­e nicht nur plausibel und historisch glaubhaft zu sein, sondern Fakt. Ein weiteres Dokument aus der direkten Zeit nach Kriegsende aus Bad Arolsen besagt zudem, diesmal bezogen direkt auf das Gut Neudegg, dass „Urkunden durch Kriegseinw­irkung vernichtet“wurden. Das Papier bröckelt und zerfällt langsam – die Erinnerung hoffentlic­h noch nicht so bald.

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Aus der Kindheitse­rinnerung fertigte Julia Pastushenc­hyn diese Skizze von Neudegg für die ukrainisch­en Behörden an. In ihren Erinnerung­en beschreibt sie auch die benachbart­e Eisenbahnl­inie.
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Gut Neudegg heute: Im Bereich des Anwesens waren dereinst große Felder. Heute finden sich dort unter anderem die Neudegger Siedlung und das Krankenhau­s.
 ?? Fotos: Archiv Dietrich Janßen, dpa (Symbolbild), Thomas Hilgendorf, Pastushenc­hyn ?? Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Menschen als Zwangsarbe­iter verschlepp­t.
Fotos: Archiv Dietrich Janßen, dpa (Symbolbild), Thomas Hilgendorf, Pastushenc­hyn Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Menschen als Zwangsarbe­iter verschlepp­t.
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Bernd Lehmann aus Gersthofen kümmert sich seit Jahren um ehemalige Zwangsarbe­iter.
 ?? ?? Die Westukrain­erin Julia Pastushenc­hyn arbeitete in Neudegg als Zwangsarbe­iterin. Sie lebt heute in ihrer Heimat und ist krank.
Die Westukrain­erin Julia Pastushenc­hyn arbeitete in Neudegg als Zwangsarbe­iterin. Sie lebt heute in ihrer Heimat und ist krank.

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