Unter Zwang nach Donauwörth
Julia Pastushenchyn ist eine der letzten lebenden Zwangsarbeiterinnen, die in der Nazizeit in und um Donauwörth schufteten. Sie meldete sich nach fast 80 Jahren.
Gut Neudegg ist in der Region ein fester Begriff. Das Gut gibt es heute immer noch. Doch die Felder des nach wie vor stattlichen Anwesens sind im Laufe der Geschichte dahingeschmolzen. Enteignungen gab es, unter anderem durch die Nationalsozialisten, die hier die „Adolf-Hitler-Siedlung“bauen ließen, die heute jeder Donauwörther unter dem Namen Neudegger Siedlung kennt. Lange war Gut Neudegg ein großer landwirtschaftlicher Betrieb. Ein Betrieb, in dem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs auch Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Eine von ihnen hat sich nun gemeldet. Julia Pastushenchyn ist ihr Name. Sie, Jahrgang 1936, war damals noch ein Kind – an Donauwörth und Neudegg erinnert sie sich aber noch immer. Sie will vor allem Anerkennung. Doch das ist ein nicht unkompliziertes Unterfangen. Die Ukrainerin dürfte zu den letzten noch lebenden Fremdarbeiterinnen gehören, die einst in Donauwörth schuften mussten.
Bernd Lehmann beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit jenem schwierigen Thema, das Teil des wohl dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte ist. Ein Kapitel, welches auch fast 80 Jahre nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches nicht in Gänze aufgearbeitet ist. Das zeigt das Anliegen aus Osteuropa, das Bernd Lehmann vor einiger Zeit erreichte. Lehmann lebt in Gersthofen, doch mit dem Kopf ist er oft in der Ukraine oder in Italien. Der pensionierte Gymnasiallehrer und Historiker begibt sich seit Jahren auf die Suche nach noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern. Vor allem sind es diejenigen, nach denen er sucht, die im Kriegsverlauf aus Ostund Südeuropa nach Deutschland verfrachtet wurden. Viele kamen auch in die Fabriken und die Bauernhöfe in der Region. Auch auf Gut Neudegg.
Julia Pastushenchyn schreibt heute zu ihrem Schicksal der Zwangsarbeit, das für sie und ihre Familie 1944 im Dorf Kotuziv in der Region um die westukrainische Stadt Ternopil begann: „Eines Tages erschienen viele deutsche Soldaten im Dorf. Sie gingen durch die Höfe und befahlen, einige mit Gesten, andere, die bereits einige ukrainische Wörter kannten, sich zu versammeln und sich zum Aufbruch bereit zu machen.“Man suchte Arbeitskräfte für das Reich. Millionen Männer, die im Zivilleben auf den Feldern oder in den Fabriken gearbeitet hatten, kämpften und starben an den inzwischen zurückweichenden Fronten. Sie mussten ersetzt werden – möglichst billig mit Fremdarbeitern. Ein Unterfangen, das in die Ideologie der Nazis passte: Herrenmenschen und deren Diener aus anderen Völkern. „Sie zwangen uns in Güterwaggons und brachten uns nach Deutschland“, erinnert sich die Ukrainerin weiter, die mit ihren Geschwistern sowie ihren Eltern Iwan und Maria verschleppt wurde.
Nach mehrmaligem Umsteigen landete die Familie schließlich in München. In der bayerischen Landeshauptstadt wurden junge, kräftige Alleinstehende für die Arbeit in den örtlichen Fabriken und Betrieben zurückgelassen – „alle anderen wurden nach Donauwörth gebracht“. „Dort trafen wir an einem scheinbar speziell dafür vorgesehenen Ort auf Anwohner aus den umliegenden Dörfern, die Arbeiter aus der Ukraine auf ihren Bauernhof aufnehmen wollten. Wir können sagen, dass wir das Glück hatten, dass die Deutschen uns nicht getrennt, sondern die ganze Familie aufgenommen haben“, führt die Westukrainerin aus. Die Familie war groß – sechs Personen, die Eltern und vier Kinder Hanna, Jaroslav, Vasyl und Julia.
„Es ist klar, dass eine solche Familie den deutschen Bauern keine gute Bereicherung erschien, also warteten wir lange, bis uns jemand mitnehmen wollte. Endlich wurde unser Arbeitgeber gefunden. Der Bauer holte uns ab und brachte uns nach Neudegg bei Donauwörth. (...) Es gab eine große bewachte Brücke darüber. Daran entlang verlief eine Eisenbahnstrecke.“„Unser Herr“, wie Julia Pastushenchyn es heute noch ausdrückt, er sei ziemlich wohlhabend gewesen. Er hätte 45 Arbeiter gehabt, die sein Land bewirtschafteten und sich um sein Vieh kümmerten. Die Familie Pastushenchyn sei in einem zweistöckigen Gebäude untergebracht worden. „Erwachsene arbeiteten auf den Feldern. Ich war Babysitter für meinen jüngeren
Bruder, der damals erst drei Jahre alt war, und half auch im Haushalt (Kartoffeln schälen in der Küche, Holunderbeeren für Marmelade pflücken, Eier im Hühnerstall sammeln ...).“
Im Winter hätten die Kinder auch bei der Reinigung der Schafwolle geholfen, aus der die erwachsenen Frauen, darunter auch die Mutter, Garn spannen und daraus Socken für deutsche Soldaten strickten. Der Vater war Zimmermann, er arbeitete in einem Kühlraum, „deshalb fror er oft und erkrankte schließlich an Tuberkulose“. Aufgrund dieser Krankheit starb er sehr schnell nach seiner Rückkehr in die Ukraine im Frühjahr 1947.
„Wir haben alle sehr hart gearbeitet und das Essen war schlecht. Wir bekamen zum Beispiel Suppe, in der außer Kartoffeln nur eingeweichte Brotstücke waren. Man gab uns kaum Fleisch. Und wir Kinder suchten im Müll nach Leckereien“– nach „Keksen und Süßigkeiten“, schreibt Pastushenchyn in ihren Erinnerungen. Neben dem Gebäude, in dem die Arbeiter wohnten, gab es ein großes zweistöckiges Haus, in dem der Besitzer und seine Mutter wohnten. „Sie war ein guter Mensch, sie hat uns Arbeiterkinder gut behandelt. Sie und ich gingen zum Friedhof, um die Gräber ihrer Familie zu pflegen. Ihr Sohn war ein etwas strenger Mann. Ich erinnere mich bis heute an seine Hand.“
Nach dem Kriegsende ging es 1945 für die Familie relativ rasch im August wieder in Richtung Ukraine. In der alten Heimat angekommen stand die Familie vor dem Nichts. Trotzdem, man war wieder zu Hause. „Obwohl es dort nichts gab, keine Pferde, keine geliebte Imkerei, keine Gebäude, die er (der Vater) sein ganzes Leben lang gebaut hatte.“
Es gab keine Wohnung mehr, „also mussten wir weitere drei Jahre in einem fremden Haus wohnen. Der Bruder unserer Mutter beherbergte uns. Es gab auch nichts, was man auf dem Feld kultivieren und säen konnte, also musste man zu den Leuten gehen, um Geld zu verdienen, die es schafften, im Dorf zu bleiben und ihre Höfe zu retten.“
Aber irgendwie habe auch die Familie Pastushenchyn „es halbwegs geschafft“. Alle Kinder seien groß geworden, hätten angefangen zu arbeiten, etwas zu verdienen, das Leben habe sich verändert. Die Brüder und die Schwester hätten ihr ganzes Leben lang in Kotuzov in einer Kolchose gearbeitet, während Julia im Alter von 16 Jahren eine pädagogische Schule besuchte und Grundschullehrerin wurde. 45 Jahre lang arbeitete sie an der Schule. In hohem Alter erkrankte sie nun am Darm, am Herzen sowie an den Gelenken. Auch verlor sie jüngst beinahe ihre Sehkraft.
Eine ukrainische Organisation, mit der der Gersthofer Historiker Lehmann seit Längerem in Kontakt steht und die sich ebenfalls um ehemalige Zwangsarbeiter kümmert, machte Julia Pastushenchyn ausfindig. Lehmann wandte sich an die Stadt Donauwörth mit der Bitte, der ehemaligen Zwangsarbeiterin zu helfen.
Aus dem Rathaus gab es zunächst einen negativen Bescheid bezüglich einer Art Patenschaft. Der Name tauche nicht auf den vorhandenen Listen auf, die in Donauwörth, Augsburg und andernorts über Zwangsarbeiter vorlägen.
Donauwörths ehemaliger Stadtarchivar Ottmar Seuffert hat sich lange mit der Thematik Zwangsarbeit in der Region beschäftigt. Er sagt: „Die Listen zur Zwangsarbeit sind lückenhaft.“Eine entsprechende Überlieferung des Arbeitsamtes Donauwörth liege nicht vor, da dieses im Stadtkommandantenhaus untergebracht war, das durch Luftangriff zerstört wurde und ausgebrannt war. Doch die Geschichte von Julia Pastushenchyn sei indessen „historisch plausibel und glaubhaft“.
So sieht es auch Bernd Lehmann, der für sein Engagement für die ehemaligen Zwangsarbeiter bereits mit der Silberdistel der Augsburger Allgemeinen ausgezeichnet wurde. „Warum sollte sich ein Mensch irgendwo in der Ukraine ausdenken, ausgerechnet in Donauwörth gearbeitet zu haben? Und auf einen Namen wie Gut Neudegg kommen? Und das am Ende des Lebens.“
Auf dem Gut Neudegg wohnt Armin von Gaisberg. Seine Familie betrieb auch zu der Zeit dort die Landwirtschaft, als Julia Pastushenchyn dort war. Gaisberg kann über die NS-Zeit wenig berichten – er selbst ist Jahrgang 1956 und „in den Jahren nach dem Krieg wurde allgemein in der Gesellschaft wenig über das Thema gesprochen“. Listen seien nicht mehr vorhanden auf Gut Neudegg. Das Thema Zwangsarbeit habe ihn das erste Mal Anfang der 1990er-Jahre erreicht, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwei polnische Arbeiterinnen eine Bestätigung für ihren Rentenantrag verlangten. Gaisberg sagt, er habe sie ihnen ausgestellt – es sei auch damals schon plausibel gewesen, dass diese Frauen hier gearbeitet hatten.
Inzwischen hat man im Donauwörther Rathaus umgedacht. Oberbürgermeister Jürgen Sorré erklärt, man wolle nun doch „eine zweite Runde drehen“und der Frau helfen. Man zweifle ihre Ausführungen „in keiner Weise“an. Sorré sagt auch, dass die erste Reaktion letztlich unglücklich verlaufen sei: „Wir haben aus dem Sachverhalt nicht die richtigen Schlüsse gezogen.“Jetzt wolle man das ändern und das Schicksal von Julia Pastushenchyn zum Anlass nehmen, sich intensiver mit diesem Kapitel der Stadtgeschichte weiterzubeschäftigen. Die Stadt wolle und werde einen Weg der Unterstützung suchen und finden.
Für die Ukrainerin dürfte dies eine Erleichterung sein am Ende ihres Lebens, eine kleine Anerkennung des Schicksals aus dem Land, für das sie und ihre Familie unfreiwillig schuften mussten. Vielleicht ist auch eine späte Versöhnung mit Donauwörth.
Nachtrag: Kurz vor Andruck erreicht uns ein Dokument, das aus den Archiven Arolsen stammt, dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Auch die Stadt Donauwörth hatte hier nachgefragt. Mitglieder der Familie Pastushenchyn sind hier, wie sich jetzt herausstellte, doch als Zwangsarbeiter des Deutschen Reiches gelistet – allerdings unter den polnischen Ukrainern, nicht unter den Ukrainern. Somit scheint das Schicksal der Zwangsarbeiterfamilie nicht nur plausibel und historisch glaubhaft zu sein, sondern Fakt. Ein weiteres Dokument aus der direkten Zeit nach Kriegsende aus Bad Arolsen besagt zudem, diesmal bezogen direkt auf das Gut Neudegg, dass „Urkunden durch Kriegseinwirkung vernichtet“wurden. Das Papier bröckelt und zerfällt langsam – die Erinnerung hoffentlich noch nicht so bald.