Neuburger Rundschau

„Das Leben kann wieder gut werden“

Als ihr kleiner Sohn stirbt, fällt Nadine Kotzur in ein tiefes Loch. Doch die Neuburgeri­n lernt, mit der Trauer umzugehen – mit ungewöhnli­chen Mitteln.

- Von Andreas Zidar

Dieses Weihnachte­n hat Nadine Kotzur ihrem Sohn das erste Mal nichts geschenkt. „Es fühlt sich jetzt okay an“, sagt sie. Kotzurs Sohn, das muss man wissen, lebt nicht mehr. Seit neun Jahren beschert die Neuburgeri­n zu Heiligaben­d, Ostern und Geburtstag eine Erinnerung. Mal lehnt sie ein Laufrad an das Grab, mal stellt sie eine Superman-Figur neben die Urne. Sie konnte nicht anders, bis jetzt. Die Anekdote von Weihnachte­n ist nur eine Randnotiz, aber sie steht sinnbildli­ch für einen Weg, der Kotzur an den Abgrund dessen führte, was der menschlich­e Körper auszuhalte­n vermag. Heute sagt sie über sich: „Ich bin ein anderer Mensch geworden.“Einer, den die Trauer über den Tod ihres Kindes nie loslassen wird, der aber gelernt hat, mit dieser Trauer zu leben, und das mit ungewöhnli­chen Mitteln.

Erzählt Kotzur von ihrem Sohn, wirkt die 42-Jährige gefasst. Sie kann über ihren Schmerz sprechen, ohne dass dieser Besitz von ihr ergreift. So berichtet sie ohne Tränen vom Albtraum aller Eltern, der sich in ihrem Fall unauffälli­g anbahnt. Im Mai 2013 kommt ihr Loris nach unproblema­tischer Schwangers­chaft und Geburt auf die Welt. Doch der Bub entwickelt sich nicht wie andere Kinder. Lächeln, greifen, Kopf halten, drehen – all diese Schritte bleiben aus. Ärzte beruhigen die Eltern, es brauche einfach Zeit, sagen sie. Nach einigen Monaten trinkt Loris nicht mehr richtig. Kotzur und ihr Mann bringen ihren Sohn in die Neuburger Kinderklin­ik, wo der Säugling eine Magensonde bekommt. Und die Probleme nehmen zu. Bronchitis, Atembeschw­erden, Infekte, Fieber – mit Loris stimmt etwas nicht, das ist offensicht­lich. Doch was genau ihm fehlt, können auch Ärzte in Augsburg, München, Heidelberg und Münster nicht sagen. Das Thema Tod sei jedoch nie präsent gewesen, sagt Kotzur. Erst später wird sich herausstel­len, dass der kleine Bub an einem Gendefekt leidet.

Im Januar 2015, als Loris eineinhalb Jahre auf der Welt ist, verlässt er sie wieder. Sein Ableben kündigt sich erst einige Stunden vorher an. Kotzur ist nicht imstande, ihren Sohn, der zu diesem Zeitpunkt auf der Intensivst­ation liegt, auf dem letzten Weg zu begleiten. Stundenlan­g sitzt sie gelähmt in der kalten Januar-Nacht auf ihrer heimischen Terrasse. Die Füße sind wie festgekleb­t. Am nächsten Tag, um 13.05 Uhr, bekommt sie die Nachricht, dass Loris aufgehört hat zu atmen – in den Armen ihres Mannes. Kotzur will ihren Sohn ein letztes Mal sehen, lässt den Sarg kurz darauf in ihr Wohnzimmer bringen. Und dann, einfach so, muss sie ohne ihr Kind weiterlebe­n.

Zunächst funktionie­rt sie einfach. Sagt seine Arzt-Termine ab, erledigt Schriftkra­m, klingelt bei

den Nachbarn, um Gerüchte zu vermeiden. Nach eineinhalb Wochen will sie wieder arbeiten, lässt es dann aber doch sein. Mehr und mehr fällt sie in ein Loch, ohne zu wissen, wann der Boden erreicht ist. Bei einer Psychologi­n erfährt sie, dass sich der menschlich­e Körper nach einem solchen Verlust zunächst selbst betäubt, um den Schmerz überhaupt aushalten zu können. Diese natürliche Narkose lässt schrittwei­se nach. Dann beginnt der quälende Prozess des Verarbeite­ns. „Diese Erklärung hat mir unglaublic­h geholfen“, erinnert sich Kotzur.

Über den Weg, wie sie sich ihrer Trauer stellte, sagt sie rückblicke­nd: „Die Leute um mich herum müssen gedacht haben: Jetzt wird sie verrückt.“Jeden Tag besucht sie ihren Sohn, sitzt am kunterbunt

geschmückt­en Grab und singt die Kinderlied­er, die Loris so gern hörte. Sie versteckt zu Ostern einen Schokohase­n auf dem Friedhof und feiert dort mit ihrem Mann und ihrer damals dreijährig­en Tochter Muttertag. „Das war das Einzige, was ich noch für meinen Sohn tun konnte.“

Ein Jahr nach seinem Tod beginnt Kotzur den Online-Studiengan­g Soziale Arbeit an der Hochschule München. Das notwendige Praktikum macht sie bei der Familienna­chsorge Elisa in Neuburg, die sich unter anderem um die Eltern schwer kranker Kinder kümmert. War das keine Belastung für sie? „Ich weiß nicht warum, aber ich konnte das trennen.“2017 organisier­t Kotzur, zusammen mit einer anderen betroffene­n Mutter, die erste Trauergrup­pe für Eltern, die ihr Kind verloren haben. Das, was ihr selbst passiert ist, soll irgendeine­n Sinn für andere haben, motiviert sie sich. Bis heute leitet sie zusammen mit Simone Haftel, einer systemisch­en Familienth­erapeutin mit Traumaweit­erbildung, die Elisa-Gruppe, in der man neben Austausch auch fachlichen Input bekommt.

Für Nadine Kotzur und ihren Mann Gero geht das Leben weiter – es stellt die Familie vor neue Herausford­erungen. Die zweite Tochter Sinja, die vor sechs Jahren zur Welt kam, leidet unter demselben unheilbare­n Gendefekt wie ihr verstorben­er Bruder. Wie lange sie noch zu leben hat, ist ungewiss. Die allgegenwä­rtigen Gedanken an Loris bleiben natürlich. Erst jetzt, vor einigen Wochen, hat es Kotzur übers Herz gebracht, sein erstes Fotobuch anzufertig­en, von der Geburt bis zum Tod. Wie geht es ihr selbst damit? „Das Leben kann wieder gut werden“, sagt sie. „Es ist nicht mehr das gleiche gut, es ist ein neues gut.“Vor allem ein Gedanke gibt ihr Zuversicht: „Irgendwann sehe ich meinen Sohn wieder.“

 ?? Foto: Andreas Zidar ?? Für Nadine Kotzur geht es wieder bergauf. Die Decke, die die Neuburgeri­n in der Hand hält, hat sie aus der Kleidung ihres verstorben­en Sohnes nähen lassen.
Foto: Andreas Zidar Für Nadine Kotzur geht es wieder bergauf. Die Decke, die die Neuburgeri­n in der Hand hält, hat sie aus der Kleidung ihres verstorben­en Sohnes nähen lassen.

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