„Das Leben kann wieder gut werden“
Als ihr kleiner Sohn stirbt, fällt Nadine Kotzur in ein tiefes Loch. Doch die Neuburgerin lernt, mit der Trauer umzugehen – mit ungewöhnlichen Mitteln.
Dieses Weihnachten hat Nadine Kotzur ihrem Sohn das erste Mal nichts geschenkt. „Es fühlt sich jetzt okay an“, sagt sie. Kotzurs Sohn, das muss man wissen, lebt nicht mehr. Seit neun Jahren beschert die Neuburgerin zu Heiligabend, Ostern und Geburtstag eine Erinnerung. Mal lehnt sie ein Laufrad an das Grab, mal stellt sie eine Superman-Figur neben die Urne. Sie konnte nicht anders, bis jetzt. Die Anekdote von Weihnachten ist nur eine Randnotiz, aber sie steht sinnbildlich für einen Weg, der Kotzur an den Abgrund dessen führte, was der menschliche Körper auszuhalten vermag. Heute sagt sie über sich: „Ich bin ein anderer Mensch geworden.“Einer, den die Trauer über den Tod ihres Kindes nie loslassen wird, der aber gelernt hat, mit dieser Trauer zu leben, und das mit ungewöhnlichen Mitteln.
Erzählt Kotzur von ihrem Sohn, wirkt die 42-Jährige gefasst. Sie kann über ihren Schmerz sprechen, ohne dass dieser Besitz von ihr ergreift. So berichtet sie ohne Tränen vom Albtraum aller Eltern, der sich in ihrem Fall unauffällig anbahnt. Im Mai 2013 kommt ihr Loris nach unproblematischer Schwangerschaft und Geburt auf die Welt. Doch der Bub entwickelt sich nicht wie andere Kinder. Lächeln, greifen, Kopf halten, drehen – all diese Schritte bleiben aus. Ärzte beruhigen die Eltern, es brauche einfach Zeit, sagen sie. Nach einigen Monaten trinkt Loris nicht mehr richtig. Kotzur und ihr Mann bringen ihren Sohn in die Neuburger Kinderklinik, wo der Säugling eine Magensonde bekommt. Und die Probleme nehmen zu. Bronchitis, Atembeschwerden, Infekte, Fieber – mit Loris stimmt etwas nicht, das ist offensichtlich. Doch was genau ihm fehlt, können auch Ärzte in Augsburg, München, Heidelberg und Münster nicht sagen. Das Thema Tod sei jedoch nie präsent gewesen, sagt Kotzur. Erst später wird sich herausstellen, dass der kleine Bub an einem Gendefekt leidet.
Im Januar 2015, als Loris eineinhalb Jahre auf der Welt ist, verlässt er sie wieder. Sein Ableben kündigt sich erst einige Stunden vorher an. Kotzur ist nicht imstande, ihren Sohn, der zu diesem Zeitpunkt auf der Intensivstation liegt, auf dem letzten Weg zu begleiten. Stundenlang sitzt sie gelähmt in der kalten Januar-Nacht auf ihrer heimischen Terrasse. Die Füße sind wie festgeklebt. Am nächsten Tag, um 13.05 Uhr, bekommt sie die Nachricht, dass Loris aufgehört hat zu atmen – in den Armen ihres Mannes. Kotzur will ihren Sohn ein letztes Mal sehen, lässt den Sarg kurz darauf in ihr Wohnzimmer bringen. Und dann, einfach so, muss sie ohne ihr Kind weiterleben.
Zunächst funktioniert sie einfach. Sagt seine Arzt-Termine ab, erledigt Schriftkram, klingelt bei
den Nachbarn, um Gerüchte zu vermeiden. Nach eineinhalb Wochen will sie wieder arbeiten, lässt es dann aber doch sein. Mehr und mehr fällt sie in ein Loch, ohne zu wissen, wann der Boden erreicht ist. Bei einer Psychologin erfährt sie, dass sich der menschliche Körper nach einem solchen Verlust zunächst selbst betäubt, um den Schmerz überhaupt aushalten zu können. Diese natürliche Narkose lässt schrittweise nach. Dann beginnt der quälende Prozess des Verarbeitens. „Diese Erklärung hat mir unglaublich geholfen“, erinnert sich Kotzur.
Über den Weg, wie sie sich ihrer Trauer stellte, sagt sie rückblickend: „Die Leute um mich herum müssen gedacht haben: Jetzt wird sie verrückt.“Jeden Tag besucht sie ihren Sohn, sitzt am kunterbunt
geschmückten Grab und singt die Kinderlieder, die Loris so gern hörte. Sie versteckt zu Ostern einen Schokohasen auf dem Friedhof und feiert dort mit ihrem Mann und ihrer damals dreijährigen Tochter Muttertag. „Das war das Einzige, was ich noch für meinen Sohn tun konnte.“
Ein Jahr nach seinem Tod beginnt Kotzur den Online-Studiengang Soziale Arbeit an der Hochschule München. Das notwendige Praktikum macht sie bei der Familiennachsorge Elisa in Neuburg, die sich unter anderem um die Eltern schwer kranker Kinder kümmert. War das keine Belastung für sie? „Ich weiß nicht warum, aber ich konnte das trennen.“2017 organisiert Kotzur, zusammen mit einer anderen betroffenen Mutter, die erste Trauergruppe für Eltern, die ihr Kind verloren haben. Das, was ihr selbst passiert ist, soll irgendeinen Sinn für andere haben, motiviert sie sich. Bis heute leitet sie zusammen mit Simone Haftel, einer systemischen Familientherapeutin mit Traumaweiterbildung, die Elisa-Gruppe, in der man neben Austausch auch fachlichen Input bekommt.
Für Nadine Kotzur und ihren Mann Gero geht das Leben weiter – es stellt die Familie vor neue Herausforderungen. Die zweite Tochter Sinja, die vor sechs Jahren zur Welt kam, leidet unter demselben unheilbaren Gendefekt wie ihr verstorbener Bruder. Wie lange sie noch zu leben hat, ist ungewiss. Die allgegenwärtigen Gedanken an Loris bleiben natürlich. Erst jetzt, vor einigen Wochen, hat es Kotzur übers Herz gebracht, sein erstes Fotobuch anzufertigen, von der Geburt bis zum Tod. Wie geht es ihr selbst damit? „Das Leben kann wieder gut werden“, sagt sie. „Es ist nicht mehr das gleiche gut, es ist ein neues gut.“Vor allem ein Gedanke gibt ihr Zuversicht: „Irgendwann sehe ich meinen Sohn wieder.“