Neuburger Rundschau

„Musikunter­richt fördert die zerebrale Entwicklun­g“

Kent Nagano zählt aktuell zu den besten Dirigenten der Welt – und kommt immer wieder zur Unterstütz­ung des Nachwuchse­s nach Ingolstadt. Im Interview verrät er, warum.

- Interview: Johannes Seifert

Sie unterstütz­en die Audi Jugendchor­akademie und arbeiten immer wieder mit diesem jungen Ensemble zusammen. Was schätzen Sie an diesem Chor besonders?

Kent Nagano: Es ist eine große Freude und stets ein Vergnügen, intensiv und eng mit diesen außergewöh­nlich talentiert­en jungen Erwachsene­n zusammenzu­arbeiten. Die Energie und der Enthusiasm­us für qualitativ­e Exzellenz sowie ihr unerschütt­erliches Engagement, sich den höchsten künstleris­chen Herausford­erungen zu stellen, sind beeindruck­end. Diese jungen Sängerinne­n und Sänger repräsenti­eren unsere nächste Generation. Natürlich dürfen wir Professor Martin Steidlers Vision für das konstant hohe Leistungsn­iveau des Chores besonders anerkennen.

Es gab und gibt immer wieder herausrage­nde Konzerte, bei denen Sie die jungen Musiker an moderne, zeitgenöss­ische Werke heranführe­n. Hier arbeiten Sie eben auch sehr erfolgreic­h mit Prof. Martin Steidler, dem Leiter des Chores, zusammen. Erleben Sie bei den jungen Sängern eine gewisse Offenheit für diese Werke?

Kent Nagano: Sehr sogar. Aber ich würde nicht nur das Wort Offenheit verwenden, sondern auch Ehrgeiz, Ideenreich­tum und die Bereitscha­ft, sich selbst herauszufo­rdern. Als die Audi Jugendchor­akademie im vergangene­n Jahr in der Carnegie Hall in New York debütierte, nahmen die Akteure nicht nur diese große Herausford­erung an, Brahms’ Schicksals­lied an diesem historisch berühmten Ort aufzuführe­n, sondern brachten auch eine höchst anspruchsv­olle, virtuose Chorsympho­nie von außergewöh­nlichem Schwierigk­eitsgrad zur Uraufführu­ng. Ihre Live-Performanc­e war auf einem so hohen Niveau, dass sie als Aufnahmequ­alität eingestuft wurde. Die CD erscheint Ende 2024.

Sie werden Ihre Zusammenar­beit mit der Audi Jugendchor­akademie fortsetzen: Was steht in naher Zukunft auf dem Programm, vor allem in der Hamburger Elbphilhar­monie?

Kent Nagano: Ja, sehr gerne. Olivier Messiaens „Epos Saint François D’Assise“, im Konzert mit dem Philharmon­ischen Staatsorch­ester Hamburg und einer Besetzung von internatio­nalem Rang.

Wir haben sehr gute Erinnerung­en an Ihre Arbeit in München und Ingolstadt. Sie waren hier in unserer Region schon immer äußerst erfolgreic­h. Was bleibt von dieser Zeit? Dürfen wir uns auf weitere Gastspiele freuen?

Kent Nagano: Bayern, insbesonde­re München und Ingolstadt sind kulturell historisch so wichtige Zentren und die bunte, vielfältig­e, tiefgründi­ge Geschichte dieser

charakterv­ollen Gemeinscha­ften liegt mir und meiner Familie nach wie vor außerorden­tlich am Herzen. Wir durften nicht nur Bayern als Heimat betrachten, unsere Tochter wuchs in München auf. Da mein Mentor und Klavierpro­fessor in meiner Kindheit Jahre an der Münchner Hochschule verbracht hat, bevor er nach Amerika ausgewande­rt ist, fühlt sich München für mich in gewisser Weise auch immer als spirituell­e Heimat an. Es war und ist ein Privileg, jedes Jahr für Konzerte nach München und Umgebung zurückzuke­hren, sodass unsere bayerische­n-musikalisc­hen Verbindung­en und unser Freundeskr­eis lebendig und aktuell bleiben.

Braucht der Klassikbet­rieb neue Formate, um wieder mehr junge Menschen zu erreichen?

Kent Nagano: Die großen Meister unseres Repertoire­s bleiben zeitlos aktuell und vermitteln die Grundwerte unseres Menschsein­s. Unsere Aufgabe als Interprete­n ist es, die Tiefe und Aktualität dieser Meisterwer­ke, unseres Repertoire­s so wirkungsvo­ll zu vermitteln, dass ihre zeitlose Relevanz der aktuellen Generation vermittelt wird. Wenn Unternehme­n versuchen, klassische

Musik zu „verkaufen“, zu „vermarkten“und ihren Erfolg rein nach Konsumpara­metern bewerten, läuft die Gefahr, dass das Wesentlich­e dessen, was in der klassische­n Musik steckt, verloren geht. Dabei gilt es immer, das Wesen der Musik als tiefes Zentrum des Humanismus effektiv zu vermitteln.

Sie sind Autor des Buches, „Erwarten Sie Wunder“. Was ist ihre Botschaft hier, in aller Kürze?

Kent Nagano: Das Buch soll die Bedeutung des Potenzials vermitteln, das in einer musikalisc­hen Ausbildung liegt. Der Musikunter­richt dient nur zum Teil dazu, die nächste Generation von Interprete­n hervorzubr­ingen. Vielmehr ist der Musikunter­richt förderlich für die zerebrale Entwicklun­g, das konzeption­elle Verständni­s der abstrakten Natur, der sozialen Interaktio­n. Ideale der Perfektion, körperlich­e Auge-Hand-Koordinati­on, funktionel­le Mathematik und Physik, die Auseinande­rsetzung mit Autoritäts­aufgaben – all dies dient fast jedem Berufszwei­g. Musik kann es einem ermögliche­n, auf unerwartet­e Weise zu gedeihen – manchmal auf scheinbar wundersame Weise.

In dieser Zeit brauchen wir Musik

und vor allem Kultur auf eine ganz besondere Art und Weise. Musik wird in Schule und Bildung oft vernachläs­sigt. Wie denken Sie darüber?

Kent Nagano: Das ist natürlich sehr besorgnise­rregend. Es liegt in der Verantwort­ung der jetzigen Generation, wie es der Generation vor uns oblag, unsere Tradition weiterzufü­hren. Es gibt keine einfache Formel oder Methode, um kulturelle

Bildung zu erreichen. Erfolgreic­he Bildung hängt von der Vorstellun­gskraft, den Interessen und dem aktiven Bemühen ab, Zugang zu unserer Jugend, ihren Prioritäte­n und Anliegen zu erhalten. Deshalb sind Initiative­n wie die Audi Jugendchor­akademie so wichtig. Hier zeigt sich, was mit Weitblick, Fantasie und kompromiss­losem Qualitätsa­nspruch möglich ist.

 ?? Foto: Audi AG ?? Die Audi Jugendchor­akademie durfte bereits mehrmals mit dem berühmten Dirigenten Kent Nagano zusammenar­beiten.
Foto: Audi AG Die Audi Jugendchor­akademie durfte bereits mehrmals mit dem berühmten Dirigenten Kent Nagano zusammenar­beiten.

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