„Musikunterricht fördert die zerebrale Entwicklung“
Kent Nagano zählt aktuell zu den besten Dirigenten der Welt – und kommt immer wieder zur Unterstützung des Nachwuchses nach Ingolstadt. Im Interview verrät er, warum.
Sie unterstützen die Audi Jugendchorakademie und arbeiten immer wieder mit diesem jungen Ensemble zusammen. Was schätzen Sie an diesem Chor besonders?
Kent Nagano: Es ist eine große Freude und stets ein Vergnügen, intensiv und eng mit diesen außergewöhnlich talentierten jungen Erwachsenen zusammenzuarbeiten. Die Energie und der Enthusiasmus für qualitative Exzellenz sowie ihr unerschütterliches Engagement, sich den höchsten künstlerischen Herausforderungen zu stellen, sind beeindruckend. Diese jungen Sängerinnen und Sänger repräsentieren unsere nächste Generation. Natürlich dürfen wir Professor Martin Steidlers Vision für das konstant hohe Leistungsniveau des Chores besonders anerkennen.
Es gab und gibt immer wieder herausragende Konzerte, bei denen Sie die jungen Musiker an moderne, zeitgenössische Werke heranführen. Hier arbeiten Sie eben auch sehr erfolgreich mit Prof. Martin Steidler, dem Leiter des Chores, zusammen. Erleben Sie bei den jungen Sängern eine gewisse Offenheit für diese Werke?
Kent Nagano: Sehr sogar. Aber ich würde nicht nur das Wort Offenheit verwenden, sondern auch Ehrgeiz, Ideenreichtum und die Bereitschaft, sich selbst herauszufordern. Als die Audi Jugendchorakademie im vergangenen Jahr in der Carnegie Hall in New York debütierte, nahmen die Akteure nicht nur diese große Herausforderung an, Brahms’ Schicksalslied an diesem historisch berühmten Ort aufzuführen, sondern brachten auch eine höchst anspruchsvolle, virtuose Chorsymphonie von außergewöhnlichem Schwierigkeitsgrad zur Uraufführung. Ihre Live-Performance war auf einem so hohen Niveau, dass sie als Aufnahmequalität eingestuft wurde. Die CD erscheint Ende 2024.
Sie werden Ihre Zusammenarbeit mit der Audi Jugendchorakademie fortsetzen: Was steht in naher Zukunft auf dem Programm, vor allem in der Hamburger Elbphilharmonie?
Kent Nagano: Ja, sehr gerne. Olivier Messiaens „Epos Saint François D’Assise“, im Konzert mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und einer Besetzung von internationalem Rang.
Wir haben sehr gute Erinnerungen an Ihre Arbeit in München und Ingolstadt. Sie waren hier in unserer Region schon immer äußerst erfolgreich. Was bleibt von dieser Zeit? Dürfen wir uns auf weitere Gastspiele freuen?
Kent Nagano: Bayern, insbesondere München und Ingolstadt sind kulturell historisch so wichtige Zentren und die bunte, vielfältige, tiefgründige Geschichte dieser
charaktervollen Gemeinschaften liegt mir und meiner Familie nach wie vor außerordentlich am Herzen. Wir durften nicht nur Bayern als Heimat betrachten, unsere Tochter wuchs in München auf. Da mein Mentor und Klavierprofessor in meiner Kindheit Jahre an der Münchner Hochschule verbracht hat, bevor er nach Amerika ausgewandert ist, fühlt sich München für mich in gewisser Weise auch immer als spirituelle Heimat an. Es war und ist ein Privileg, jedes Jahr für Konzerte nach München und Umgebung zurückzukehren, sodass unsere bayerischen-musikalischen Verbindungen und unser Freundeskreis lebendig und aktuell bleiben.
Braucht der Klassikbetrieb neue Formate, um wieder mehr junge Menschen zu erreichen?
Kent Nagano: Die großen Meister unseres Repertoires bleiben zeitlos aktuell und vermitteln die Grundwerte unseres Menschseins. Unsere Aufgabe als Interpreten ist es, die Tiefe und Aktualität dieser Meisterwerke, unseres Repertoires so wirkungsvoll zu vermitteln, dass ihre zeitlose Relevanz der aktuellen Generation vermittelt wird. Wenn Unternehmen versuchen, klassische
Musik zu „verkaufen“, zu „vermarkten“und ihren Erfolg rein nach Konsumparametern bewerten, läuft die Gefahr, dass das Wesentliche dessen, was in der klassischen Musik steckt, verloren geht. Dabei gilt es immer, das Wesen der Musik als tiefes Zentrum des Humanismus effektiv zu vermitteln.
Sie sind Autor des Buches, „Erwarten Sie Wunder“. Was ist ihre Botschaft hier, in aller Kürze?
Kent Nagano: Das Buch soll die Bedeutung des Potenzials vermitteln, das in einer musikalischen Ausbildung liegt. Der Musikunterricht dient nur zum Teil dazu, die nächste Generation von Interpreten hervorzubringen. Vielmehr ist der Musikunterricht förderlich für die zerebrale Entwicklung, das konzeptionelle Verständnis der abstrakten Natur, der sozialen Interaktion. Ideale der Perfektion, körperliche Auge-Hand-Koordination, funktionelle Mathematik und Physik, die Auseinandersetzung mit Autoritätsaufgaben – all dies dient fast jedem Berufszweig. Musik kann es einem ermöglichen, auf unerwartete Weise zu gedeihen – manchmal auf scheinbar wundersame Weise.
In dieser Zeit brauchen wir Musik
und vor allem Kultur auf eine ganz besondere Art und Weise. Musik wird in Schule und Bildung oft vernachlässigt. Wie denken Sie darüber?
Kent Nagano: Das ist natürlich sehr besorgniserregend. Es liegt in der Verantwortung der jetzigen Generation, wie es der Generation vor uns oblag, unsere Tradition weiterzuführen. Es gibt keine einfache Formel oder Methode, um kulturelle
Bildung zu erreichen. Erfolgreiche Bildung hängt von der Vorstellungskraft, den Interessen und dem aktiven Bemühen ab, Zugang zu unserer Jugend, ihren Prioritäten und Anliegen zu erhalten. Deshalb sind Initiativen wie die Audi Jugendchorakademie so wichtig. Hier zeigt sich, was mit Weitblick, Fantasie und kompromisslosem Qualitätsanspruch möglich ist.