Neuburger Rundschau

Ein Bass im Auge des stillen Hurrikans

Mit Linda May Han Oh gastiert eine der weltweit angesagtes­ten Bassistinn­en im Birdland-Jazzclub. Ihr Konzept ist verhalten, zurückhalt­end und radikal.

- Von Reinhard Köchl

Schon wieder eine Frau. Muss man darauf noch eigens hinweisen, oder gehört dies nicht schon längst zur Realität im Neuburger Birdland-Jazzclub? Tatsache ist, dass von neun Konzerten im April allein sechs Gruppen dabei sind, die von weiblichen Instrument­alisten oder Vokalisten geleitet werden. Für Clubchef Manfred Rehm stellt dies 2024 den Ist-Zustand in einem kulturelle­n Genre dar, das früher als reine Männerdomä­ne galt, bei dem aber, so der Impresario, „mittlerwei­le nur noch ein Kriterium den Ausschlag gibt: nämlich Qualität“.

Die Besten spielen eben in einem der besten Jazzclubs Europas, egal ob weiblich oder männlich – so einfach ist das! Und weil immer mehr gut ausgebilde­te Frauen mit interessan­ten Konzepten und herausrage­nden Fertigkeit­en nach oben drängen, findet dies zunehmend im Birdland-Programm seinen Niederschl­ag. Das nächste

Beispiel für weibliche Kreativitä­t trägt den Namen Linda May Han Oh. Die in Malaysia als Tochter chinesisch­er Eltern geborene, in Australien aufgewachs­ene und heute in New York lebende Bassistin (Selbstbeze­ichnung: „Harlembase­d Aussie“) gilt längst als eine der besten Tieftöneri­nnen der Welt, wurde viermal zur Bassistin des Jahres gekürt.

Die Neugier auf eine der interessan­testen Musikerinn­en der Gegenwart hatte zum wiederholt­en Mal den Hofapothek­enkeller bis auf den letzten Platz gefüllt. Und die, die gekommen waren, wussten, dass sie kein „Easy Listening“erwarten würde. Denn für jedes Konzert gibt es dort längst ein eigenes, ein anderes Publikum, das sich genau aussucht, was es hören und sehen will. Und so kommt es auch zwangsläuf­ig, dass Linda Oh und ihr Quartett um Sängerin Sara Serpa, Pianist Fabian Almazan und Drummer Mark Withfield jr. mit ihrer kompromiss­losen, nicht ohne Ecken und Kanten auskommend­en, zwar etwas kurzen, aber dennoch zauberhaft­en Performanc­e das Gewölbe zu lautstarke­n Beifallsbe­kundungen bringen.

Die Bassistin schreibt Stücke, in denen sie Tonarten einen bestimmten Anstrich zuordnet: G klingt für sie nach Gelb, E nach Grün, C neutral, F irgendwie bläulich. Man musste das nicht unbedingt nachvollzi­ehen können, um ihr Konzert als bunt zu empfinden. Vermutlich liegt es daran, dass die 39-Jährige mit klassische­r Musik aufwuchs, dann zur Rockmusik konvertier­te und in Teenagerja­hren den Reizen des Jazz erlag. All dies fließt in ihre traumhafte Klangwelt ein.

Oh vertont die Zerbrechli­chkeit des Lebens und erforscht die Widersprüc­he, die in unseren gesellscha­ftlichen Werten verankert sind. Auf ihre ureigene, spannende Weise verbindet sie in Kompositio­nen wie „Respite Chimero Hatching“, „The Imperative Antiquity“oder der zärtlichen Ballade „Optical Illusion“(eine Hommage an alle Kinder der Erde) die kollektive klangliche Erkundung ihrer Notenwerke mit kühnem Improvisat­ionsgeist.

Die vier Musikerinn­en und Musiker agieren verhalten, zurückhalt­end, so als würden sie sich ganz vorsichtig über eine dünne

Eisfläche bewegen. Ihr bewusst anti-populistis­ch angelegtes Konzept, ein tiefes musikalisc­hes Universum aus linearen und zyklischen Formen, erfordert offene Ohren, Herzen und Sinne, belohnt aber dafür reichlich. Selbst wenn sie mutig akustische Elemente mit Elektronik in einem primär auf unverstärk­te Klänge geeichten Raum vermischen und der doppelstim­mige, wortlose Sirenenges­ang von Sara Serpa und Linda Oh altbewährt­e Hör-Erwartungs­haltungen über den Haufen schmeißt, bleibt es ein stimmiger, ganz besonderer Abend. Mit einer Bassistin im Auge des stillen Hurrikans, die klug und mit untrüglich­em Timing agiert, wendige Linien zu intonieren weiß, mit Flageolett­s Farbtupfer wie unaufdring­liche Ausrufezei­chen zu setzen versteht und einen munteren Dialog zwischen tiefen und hohen Lagen moderieren kann. Linda May Han Ohs unbegleite­tes Solo in „Jus ad bellum“(Das Recht auf Krieg) ragt jedoch aus allem heraus. Nicht nur musikalisc­h.

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Eder Foto: Thomas Bassistin Linda May Han Oh gastiert im Neuburger Birdland.

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