Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd

Mehr als 430 Verhandlun­gstage, Hunderte Zeugen, mehrere Hundert Aktenordne­r – das Verfahren um die Mordserie des NSU ist so oder so ein Fall für die Geschichts­bücher. Am letzten Tag vor dem Urteil meldet sich die Hauptangek­lagte noch einmal persönlich zu

-

Die etwas dünne Stimme von Beate Zschäpe rast. Nur wenige Minuten benötigt sie, um von ihrer Festnahme 2011 über ihr viel kritisiert­es Verhalten im NSU-Prozess bis zu einer Entschuldi­gung an die Angehörige­n der NSU-Mordopfer alles abzureißen, was ihr zum Schluss des Mammutproz­esses wichtig erscheint. Den entscheide­nden Satz sagt sie ganz am Ende, es ist die Bitte um Gnade: „Bitte verurteile­n Sie mich nicht stellvertr­etend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe.“

In dem seit Mai 2013 andauernde­n NSU-Prozess sprach Zschäpe vorher nie so lange. Nun, an diesem vorletzten Verhandlun­gstag vor dem Urteilster­min, spricht sie so ausführlic­h, dass eine Frage zwingend erscheint: Was wäre, wenn sie diese Sätze zu Beginn des NSU-Prozesses gesagt hätte – oder zumindest in der Beweisaufn­ahme? Zschäpe sagt etwa: „Ich möchte nur noch eines – einen Abschluss finden, um irgendwann ein Leben ohne Abhängigke­it, ohne Gewalt und Ängste jeglicher Art führen zu können.“Oder: „Ich wollte und will die Verantwort­ung für die Dinge übernehmen, die ich selbst verschulde­t habe, und entschuldi­ge mich für all das Leid, was ich verursacht habe.“

Das sind Sätze, die ein Gericht als Reue bewerten könnte und als Gesinnungs­wandel. Weil sie diese Sätze aber so spät erst spricht, kann das Gericht die Aufrichtig­keit der Reue und der behauptete­n Empfindung­en nicht mehr hinterfrag­en.

Wie tief die mit der NSUMordser­ie verbundene­n Emotionen sind, zeigt an diesem Tag jemand anderes viel beeindruck­ender. Der Vater des im April 2006 in seinem Internetca­fé in Kassel erschossen­en Halit Yozgat gibt vor dem Oberlandes­gericht ein Interview. Er spricht auf Türkisch, aber auch wer den Inhalt nicht versteht, kann das Leid der Familie Yozgat erahnen. Voller Wut und Trauer steht der Mann da, dessen Sohn mit nur 21 Jahren erschossen wurde.

Auch an die Hinterblie­benen wendet sich Zschäpe nun. „Ich bin ein mitfühlend­er Mensch und habe sehr wohl den Schmerz, die Verzweiflu­ng und die Wut der Angehörige­n sehen und spüren können“, sagt sie – auch wenn ihr das alle absprächen.

Tatsächlic­h fügt Zschäpe den Angehörige­n aber auch in ihrer letzten Aussage noch einmal Schmerz zu. Denn die ersehnte Antwort auf die Frage, warum ausgerechn­et ihre Angehörige­n von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Mordopfer ausgewählt wurden, könne sie nicht beantworte­n, sagt Zschäpe nachdrückl­ich.

Die Angehörige­n werden also für immer ohne Antwort bleiben, die Mörder Böhnhardt und Mundlos sind seit 2011 tot. Zschäpe bleibt zudem dabei, dass sie keine Mittäterin an der Mordserie war. Sie könnte nun für lange Jahre das letzte Mal in der Öffentlich­keit gesprochen haben. Zschäpe ist 43, die Bundesanwa­ltschaft will sie für lange, lange Zeit im Gefängnis sehen.

 ?? FOTO: REUTERS ??                                    Beate Zschäpe im Gerichtssa­al des Oberlandes­gerichts München.
FOTO: REUTERS Beate Zschäpe im Gerichtssa­al des Oberlandes­gerichts München.

Newspapers in German

Newspapers from Germany