Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd
Der Volksmund und die Mobilität – in Teil 1 von zwei Teilen zum Thema geht’s um die „Elektrische“, den „Schneewittchensarg“und den „Haller Willem“
¥ Bielefeld. Über lange Jahrhunderte bestand die einzige Fortbewegungsart der Menschen im Fußmarsch. Wenige konnten sich den Luxus eines Pferdes oder einer Kutsche leisten. Dies sollte sich erst vor gut 180 Jahren mit dem Aufkommen der Eisenbahn ändern. Seitdem kamen immer wieder neue Fortbewegungsmittel hinzu. Der Volksmund fand sein eigenes Verhältnis dazu, was sich in markanten Begriffen niederschlug.
„HALLER WILLEM“
Der „Haller Wilhelm“war die traditionsreiche „Bimmelbahn“, die seit 1886 auf der eingleisigen Nebenstrecke zwischen Bielefeld und Osnabrück verkehrte. Sie war sowohl bei Pendlern als auch bei Ausflüglern beliebt und geschätzt. Nach 1945 ging – auch wegen der vermehrten individuellen Mobilität – die Anzahl der Passagiere stetig zurück. Deshalb wurde 1984 der Abschnitt Dissen-Bad Rothenfelde bis Osnabrück stillgelegt. Nach der Bahnreform führten Zweckverbände den Betrieb – so 2003 die „Nordwestbahn“.
DIE „ELEKTRISCHE“
Mit der Erfindung und dem Bau von Eisenbahnstrecken erlebte die individuelle Mobilität einen erheblichen Fortschritt. Doch konnten die Züge wegen der Rauchentwicklung nur über Land fahren, in den Städten war das nicht möglich. Dies sollte sich mit der Erfindung durch Werner von Siemens ändern, der in den 1880er Jahren erstmalig eine Straßenbahn mit Elektromotoren auf die Schienen setzte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese technische Neuerung auch in Bielefeld diskutiert. Der Ingenieur Carl Brüggemann fand 1898 seine Anstellung, um eine Straßenbahnlinie einzurichten. Dazu wurde elektrischer Strom als Betriebsmittel benötigt. Deshalb fanden gleichzeitig Vorbereitungen zum Bau eines Kraftwerkes statt. Die Straßenbahn stellte damit von Anfang an einen Stromgroßabnehmer dar. Schon bald sprach der Volksmund von der „Elektrischen“. Eine zeitgenössische Karikaturen-Postkarte versinnbildlicht allerdings die damit verbundenen Ängste. Aufgescheucht durch die „Elektrische“geht ein Pferdegespann durch, ein Hund spielt verrückt und ein Kinderwagen fällt um. Nachdem jedoch am 20. Dezember 1900 die Straßenbahnlinie 1 zwischen dem „Rettungshaus“, dem heutigen Johannesstift, und Brackwede-Kirche ihren Betrieb aufgenommen hatte, erwiesen sich die segensreichen Aspekte der „Elektrischen“.
Heute ist die Stadtbahn in Bielefeld nicht mehr wegzudenken, allerdings ist der Begriff „Elektrische“nicht wirklich mehr verbreitet. Ursprünglich befand sich immer ein Schaffner mit im Wagen, der Fahrscheine verkaufte. Auch hier wurde der Volksmund aktiv: vor der Brust trug der Schaffner den sogenannten „Galoppwechsler“. Die einzelnen Münzen wurden dabei in kleine Schächte geworfen, an deren unterem Ende mit einem einfachen Hebeldruck die Münzen wieder freigegeben werden konnten – als Wechselgeld.
„SCHNEEWITTCHENSARG“
In den 1950er Jahren nahm die individuelle Mobilität ständig zu. Das hing auch mit der Konstruktion von neuen Fortbewegungsmitteln zusammen. Eines davon stellte der Messerschmidt-Kabinenroller dar. Hervorgegangen ist dieses Automobil eigentlich aus dem Flugzeugbau. So finden sich bei den Vorderrädern noch „Ansätze von Flügeln“. Aufbau und Dach waren wie eine Flugzeugkanzel konstruiert, die zum Einsteigen hochgeklappt wurde. Weil dies an den gläsernen Sarg des märchenhaften Schneewittchens erinnerte, sprach der Volksmund schon bald bei diesem Fahrzeug vom „Schneewittchensarg“– seltener von „Menschen in Aspik“. Der Messerschmitt-Kabinenroller war ein Rollermobil des deutschen Konstrukteurs Fritz M. Fend.
Die ersten Mobile nannten sich Fend-Flitzer und wurden in Rosenheim hergestellt, bevor im Januar 1953 die Serienproduktion des KR 175 im Messerschmitt-Werk Regensburg begann. Der Messerschmitt-Kabinenroller hatte drei Räder und zwei hintereinander angeordnete Sitze, sodass ein ungewöhnlich schmaler, aerodynamisch günstiger Fahrzeugkörper gestaltet werden konnte. Die beiden Vorderräder waren lenkbar. Der Motor war im Heck des Fahrzeuges eingebaut und trieb das Hinterrad an. Der Passagierraum war von einer zur Seite schwenkbaren und an eine Flugzeugkanzel erinnernden Plexiglashaube abgedeckt; die Karosseriebauart wurde daher wiederholt als „Plexiglas-Vollsichtcoupe“bezeichnet. Der Kabinenroller hatte kein Lenkrad, sondern eine Art Motorradlenker mit Drehgasgriff, der ohne Lenkgetriebe über zwei Spurstangen direkt auf die Achsschenkel wirkte. Das Fahrzeug kostete knapp 2.500 D-Mark.
Er war wohl das einzige Auto mit einer Anleitung zum Einsteigen: „Vor dem Öffnen der Haube überzeugen Sie sich, ob rechts des Fahrzeugs auch genügend Platz ist. Haube langsam anheben und nach rechts überkippen, bis Lederriemen straff gespannt ist.