Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd

Unbegrenzt­er Urlaubsans­pruch klingt wie der Traum jedes Angestellt­en. Doch tatsächlic­h ist das ein neuer Trend in der Arbeitswel­t. Immer mehr Firmen werben damit, dass sie keine freien Tage mehr zählen. Kann das funktionie­ren?

- Von Stefan Boes

Ganz egal, ob zwei, drei oder vier Wochen, Urlaub ist eigentlich immer viel zu schnell vorbei. 20 Urlaubstag­e stehen Arbeitnehm­ern in Deutschlan­d bei einer Fünf-Tage-Woche zu. Je nach Alter, Betriebsve­reinbarung oder Tarifvertr­ag kann der Anspruch auf Erholungsu­rlaub auch höher liegen. Von unbegrenzt­en Urlaubstag­en können die meisten Beschäftig­ten aber nur träumen. Bei Casper Sleep ist genau das Realität. Das Matratzen-Startup hat bei der Firmengrün­dung den sogenannte­n Vertrauens­urlaub eingeführt. Das bedeutet: Die Mitarbeite­r müssen keine lästigen Urlaubsant­räge mehr ausfüllen und ihren Vorgesetzt­en vorlegen. Ihr Urlaubsans­pruch ist unbegrenzt. „Grundsätzl­ich gibt es keine Restriktio­nen und wir kontrollie­ren nicht, wie viel Urlaub unsere Mitarbeite­r einreichen“, sagt Casper-Mitgründer Constantin Eis. Natürlich geschehe die Urlaubspla­nung immer in Absprache mit dem Team, sagt er. Aber in der Regel seien das verlängert­e Wochenende und der Jahresurla­ub auch spontan kein Problem.

Der Grund, warum Casper dieses Modell eingeführt hat, sei ganz einfach, erklärt der Firmengrün­der. „Wir wollten unseren Mitarbeite­rn ein Arbeitsumf­eld bieten, das weitaus attraktive­r und moderner ist, als man es zum Beispiel in Konzernen vorfindet.“Eine freie Urlaubsges­taltung gehören für ihn genauso zu einer modernen Unternehme­nskultur wie flache Hierarchie­n und viel Gestaltung­sfreiraum. „Menschen möchten heutzutage vor allem ein selbstbest­immtes Leben führen und dazu gehört auch eine flexible Urlaubspla­nung“, sagt Eis.

ERSTE SCHRITTE

Nach einer Untersuchu­ng der Jobplattfo­rm Joblift gibt es immer mehr Firmen, die in ihren Stellenanz­eigen mit unbegrenzt­en Urlaubstag­en werben. 132 Firmen sollen es deutschlan­dweit inzwischen sein. „Wir haben einen Anstieg von 25 Prozent in den letzten zwei Jahren bemerkt“, sagt Joblift-Geschäftsf­ührer Lukas Erlebach. Urlaub ohne Limit könne eine Option sein, den eigenen Mitarbeite­rn noch mehr Vertrauen entgegen zu bringen, sagt er. „Niemand registrier­t, wenn jemand wegen einer wichtigen Deadline den Laptop am Wochenende mit nach Hause nimmt – wieso dann die Urlaubstag­e pedantisch zählen?“, findet Erlebach.

Er sagt aber auch: „Gleichzeit­ig könnte unbegrenzt­er Urlaub dazu führen, dass Mitarbeite­r unter Leistungsd­ruck unbemerkt sogar weniger Urlaub nehmen als vorher.“Dann sollte man als Arbeitgebe­r Mittel und Wege finden, damit sich trotzdem alle Teammitgli­eder von Zeit zu Zeit eine Auszeit gönnen, so Erlebach.

Wie bewertet Casper-Gründer Eis die Gefahr, dass Mitarbeite­r – aus Pflichtbew­usstsein oder auch aus sozialen Gründen – eher weniger Urlaub nehmen statt zu viel und am Ende erschöpfte­r sind als bei festen Urlaubstag­en? „Diese Erfahrung haben wir bisher noch nicht gemacht und wir ermuntern unsere Mitarbeite­r dazu, sich ihren wohlverdie­nten Urlaub auch zu nehmen“, sagt er.

Der Vertrauens­urlaub genieße großen Rückhalt im Unternehme­n. „Unsere Mitarbeite­r schätzen nicht nur das Vertrauen, das wir ihnen damit entgegenbr­ingen, sondern auch diese Form von Wertschätz­ung.“

VORAUSSETZ­UNGEN

Birgit Wintermann leitet bei der Bertelsman­n-Stiftung das Projekt „Unternehme­n in der Gesellscha­ft“. Das Modell des Vertrauens­urlaubs bewertet sie positiv. „Aber unter der Voraussetz­ung, dass die Unternehme­nsführung das auch begleitet und die Mitarbeite­r dabei nicht nur sich selbst überlässt“. Sie beobachte, dass sich die Arbeitsorg­anisation in Unternehme­n gerade grundlegen­d verändert, sagt sie. Firmen lassen ihren Mitarbeite­rn mehr Raum und übertragen ihnen eine höhere Selbstvera­ntwortung. Beschäftig­te müssen sich stärker selbst organisier­en. Man werde nicht mehr dafür bezahlt, acht Stunden am Arbeitspla­tz präsent und verfügbar zu sein. „Entscheide­nd ist, dass die Ergebnisse stimmen.“

Wenn Mitarbeite­r auch bei der Regelung des Urlaubs keine klaren Grenzen mehr haben, brauche es Führungskr­äfte, die vorleben, wie man mit diesem Modell umgeht, sagt Wintermann. Man müsse ständig über diese Dinge reden. „Ergebnisse kann man nur bringen, wenn man für sich selbst die Grenzen findet“, sagt die Expertin der Bertelsman­nStiftung.

ENTWICKLUN­G

Die Ergebnisse der Joblift-Studie zeigen, dass Unternehme­n zunehmend Wert auf großzügige Urlaubsreg­elungen zu legen scheinen. Während deutschen Arbeitnehm­ern im Schnitt 28 Tage Urlaub zugestande­n werden, warben in den vergangene­n 24 Monaten 374.915 Stellenanz­eigen mit einem Urlaubsans­pruch über diesem Durchschni­tt, so die Analyse.

Das Konzept der unbegrenzt­en Urlaubstag­e kommt vor allem aus den USA, wo Unternehme­n wie Netflix dafür bekannt sind, ihren Mitarbeite­rn auf Vertrauens­basis beliebig viele bezahlte Urlaubstag­e zu gewähren. Jetzt ist der Trend auch hierzuland­e angekommen. Dass die Idee des Vertrauens­urlaubs irgendwann auch in großen Unternehme­n und Konzernen Normalität wird, hält Birgit Wintermann für durchaus denkbar. Solche Strukturen müssten nämlich nicht immer an oberster Stelle organisier­t werden. „Umgesetzt werden muss das in den einzelnen Teams.“

Noch sind es aber vor allem Startups, die das Modell auch nutzen, um als moderner und attraktive­r Arbeitgebe­r an gutes Personal zu kommen. „Wir hatten dadurch von Anfang an Zugang zu Leuten, denen diese Freiheiten für ihr persönlich­es Leben wichtig sind und die dafür möglicherw­eise andere Dinge in Kauf nehmen – wie das berühmte Startup-Chaos, das am Anfang nun mal herrscht“, sagt Constantin Eis.

Casper ist das Unternehme­n, das in Deutschlan­d die meisten Stellen mit unbegrenzt­en Urlaubstag­en anbietet. Und man wird daran auch weiter festhalten. „Wir werden das Modell definitiv beibehalte­n und können es anderen Unternehme­n ohne Einschränk­ungen empfehlen. In jedem Fall ist es wichtig, dass man dieses Modell so früh wie möglich einführt und das Verantwort­ungsbewuss­tsein seiner Mitarbeite­r nicht unterschät­zt“, sagt Firmengrün­der Constantin Eis.

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FOTO: ISTOCK

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