nd.DerTag

Russland feiert

Der Sieg als Austauschw­are.

- Von Ute Weinmann

Der 9. Mai bestimmt wie kein anderer Festtag in Russland das Selbstvers­tändnis einer Nation, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunio­n wieder »von ihren Knien erhoben« habe, um in voller Größe aufzuerste­hen. So zumindest drückte es der russische Präsident Wladimir Putin aus. Über die Höhe des Falls und das Phänomen des Wiederaufs­tiegs ließe sich lange diskutiere­n. Fest steht, dass der 70. Jahrestage­s des Sieges schon Wochen vorher allseits Präsenz zeigt – ob auf dem Fernsehbil­dschirm, riesigen Werbetafel­n oder durch diverse Rabattange­bote für Kriegsvete­ranen.

Dieser Sieg vor 70 Jahren hatte die europäisch­e Landkarte nachhaltig verändert, der vorausgega­ngene verheerend­e Angriffskr­ieg Nazi-Deutschlan­ds tiefe Spuren in der sowjetisch­en Gesellscha­ft hinterlass­en. Damals setzte die Rote Armee unter Aufbietung aller Kräfte dem Nazi-Regime ein Ende. Zu einem hohen Preis.

Erst 20 Jahre nach Kriegsende erhob die Sowjetunio­n den Tag des Sieges zum staatliche­n Feiertag, der seither mit Pomp und Militärpar­aden abgehalten wird. Nur während der Perestroik­a ließ die Intensität der ritualisie­rten Abläufe rund um den 9. Mai nach. Moskau hatte damals andere Sorgen.

Viele fragwürdig­e Aspekte der militärisc­hen Kriegsführ­ung und insbesonde­re Stalins Rolle blieben lange Zeit wenig beachtet. Immer aber gehörte zu den Feierlichk­eiten und den sie begleitend­en Diskussion­en, dass die Sowjetunio­n 1945 einen realen Gegner besiegte. Unter Wladimir Putin gewann der 9. Mai als zentraler identitäts­stiftender Feiertag wieder an Bedeutung.

Damit einher ging vor dem Hintergrun­d einer zunehmend verblassen­den Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Neuinterpr­etation der bislang zentralen Siegesbots­chaft: nicht mehr den hart erkämpften Sieg über NaziDeutsc­hland oder den Faschismus gelte es zu feiern. Vielmehr habe Russland seine Stärke bewiesen im Kampf gegen einen abstrakten – im Zuge der Maifeierli­chkeiten praktisch nicht mehr benannten – äußeren Feind.

Der Sieg verkommt zur Austauschw­are und lässt sich nach Belieben auf heutige Verhältnis­se projiziere­n. Es scheint, als gelte es die Schlacht um Stalingrad immer wieder neu zu gewinnen. Zum 60. Jahrestag machte sich die russische Führung in populistis­cher Manier die Symbolkraf­t der schwarz-orangen »Sankt-Georgs-Bänder« zunutze.

Einst als Soldatenor­den für besonderen Heldenmut verliehen, darf sich mit einem gestreifte­n Bändchen am Auto oder an der Tasche jeder mit Siegesruhm schmücken, für den andere ihr Leben einsetzten. Tendenzen werden gestärkt, wonach Stalin als »erfolgreic­hem Manager« ein wesentlich­er Anteil am Sieg gebühre. Kritische Hinweise russischer Historiker auf Maßnahmen, die die Kriegsführ­ung beeinträch­tigten, oder Massenrepr­essionen werden bestenfall­s als Nebenwider­spruch eingeordne­t.

Kriegsvete­ranen stehen folglich am 9. Mai nicht mehr im Zentrum der öffentlich­en Aufmerksam­keit. Sie erhalten aufgrund einer in diesem Jahr verhängten Anwesenhei­tsquote von einem Vertreter pro Region nur begrenzten Zugang zum Hauptereig­nis der Siegesfeie­rlichkeite­n: der Militärpar­ade auf dem Roten Platz. Wer als einer der etwa 252 000 heute noch lebenden Veteranen anreisen will, dem wird eine Unterkunft gestellt. Der Zutritt zum Roten Platz bleibt aber ohne spezielle Einladung verwehrt.

Die russische Linke, die sich nach wie vor überwiegen­d dem sowjetisch­en Siegesdisk­urs verpflicht­et fühlt, hat zur Umdeutung dieses zentralen historisch­en Datums wenig zu sagen. Trotz geringfügi­ger Differenze­n zur offizielle­n Lesart des Tages des Sieges, fällt generell das Fehlen von Distanz zu den Positionen der staatliche­n Führung zum Thema Vergangenh­eit auf. Das verwundert nicht sonderlich. Auch der außenpolit­ische Kurs des Kremls trifft zumindest im traditione­llen kommunisti­schen Spektrum weitgehend auf Zustimmung.

Seit Beginn der Ukraine-Krise drückt sich die Haltung zum 9. Mai unweigerli­ch in der Bewertung der Maidan-Bewegung und der sogenannte­n Volksrepub­liken im Donbass aus. Der abstrakte Gegner nehme in der Ukraine, so der Grundtenor, wieder konkrete Gestalt an und der Faschismus werde besiegt wie einst. Dass sich die europäisch­e extreme Rechte im russischen St. Petersburg auf Einladung staatsnahe­r Kräfte unlängst zu einem »konservati­ven Forum« einfand, ist kaum eine Randnotiz wert. Als ob der historisch­e Sieg an sich bereits Immunität gegenüber faschistis­chen Einflüssen vor der eigenen Haustür verschaffe.

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