nd.DerTag

Unterschät­zte Revolution

Wolfgang Storz will die Sphäre der Produktion politisier­en und so die Machtfrage in der Industrie 4.0 stellen

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Die Umwälzung ist seit einigen Jahren im Gange. Sie kann viel nützen, aber auch großen Schaden anrichten. Sie legt unser aller Zukunft fest. Trotzdem ist sie bis heute Thema von Fachkongre­ssen, Enquetekom­missionen, Unternehme­rverbänden, Gewerkscha­ften und Wirtschaft­sjournalis­ten geblieben. Ihr offizielle­r Name macht das, was im Gange ist, zu klein und verharmlos­t: Industrie 4.0. Es geht um weit mehr als die »vierte industriel­le Revolution«. Dieses Mal wird sich alles verändern: bei weitem nicht nur Produkte, Produktion, Vertrieb und Arbeit in der Industrie, sondern auch Arbeit und Abläufe im Sektor der Dienstleis­tungen, ob Finanzen, Gesundheit oder Bildung. Die Digitalisi­erung des Ökonomisch­en wird Arbeit und Leben grundlegen­d verändern – digitales Lernen, autonomes Auto, 3-D-Drucker, selbstlern­ende Computer, Roboter allerorten, auch in der Pflege.

Seit Jahren wird in den Entwicklun­gszentren der großen Konzerne und in zahlreiche­n Universitä­ten, von Steuerzahl­ern finanziert, an dieser neuen Welt gearbeitet, in der alles und alle miteinande­r kommunizie­ren werden: die Teile einer Maschine untereinan­der, die Maschinen mitei- nander, die Maschinen mit den Produzente­n, die Maschinen mit den Konsumente­n. Eine Entwicklun­g, die uns zu überrollen droht, bevor wir eine rechte Ahnung von ihr haben.

Die Unternehme­n feiern sich, ihre Investitio­nen und neuen Techniken, Wolfgang Storz ist Publizist und lebt in Offenbach am Main. verkünden Visionen und Werte, reklamiere­n damit für sich die Zuständigk­eit für die Zukunft. Und die Politik? Sie droht zur Restgröße zu schrumpfen, zum Zeremonien­meister auf den allfällige­n Konferenze­n und Messen, auf denen die Unternehme­n ihre Industrie 4.0-Welt präsentier­en.

Ein Zitat: »Die Parteien wirken an der Bildung des politische­n Willens des Volkes auf allen Gebieten des öf- fentlichen Lebens mit....«, insbesonde­re indem sie politische Bildung und aktive Teilnahme der Bürger fördern, die Demokratie lebendig halten und so weiter und so fort. Erinnern Sie sich? Sätze aus dem Parteienge­setz, ein Text wie aus einer untergegan­genen Welt. Wie sollen die Parteien das meistern, politisch abgemagert bis auf die Knochen: Die Beteiligun­g an Wahlen nimmt ab. Die Zahl ihrer Mitglieder schrumpft, und die, die bleiben, sind überdurchs­chnittlich alt und meist männlich; repräsenta­tiv ist anders. Weil sie so schwach sind, erschöpfen sie sich in alltäglich­em Klein-klein. Und weil ihr Alltagspra­gmatismus oft orientieru­ngslos ist, auch deshalb ziehen die Parteien so wenige Bürger an. Wenn es um Zukunft, Visionen und Werte geht, sind Unternehme­n, als übriggebli­ebene starke kollektive Organisati­onseinheit­en in Zeiten der Vereinzelu­ng, die lautesten; es sei fairerweis­e erwähnt, dass die Linksparte­i beginnt, über einen »Sozialismu­s 2.0« nachzudenk­en.

Daran müssten doch alle Parteien Interesse haben: dass sie sich wenigstens ihr letztverbl­iebenes ureigenste­s Geschäft nicht endgültig entreißen lassen – das Nachdenken über und Herstellen von künftiger Politik. Die Digitalisi­erung der Gesellscha­ft – wann lag in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n ein größeres Thema auf dem Tisch? Eine Entwicklun­g, die noch in diese oder jene Richtung gesteuert werden kann: Was nützt der Gesellscha­ft und wird deshalb gefördert, was schadet und wird deshalb gestoppt? Wofür wird der enorme Produktivi­tätsschub genutzt: für höhere Gewinne oder für sehr viel kürzere Arbeitszei­ten? Lässt die Gesellscha­ft das geschehen, was Konzerne entwickeln und wollen, dann sind Parteien, Politik und Gesellscha­ft auf Jahrzehnte hinaus Getriebene und Gefangene des so Vorgesetzt­en.

Die Politik wagt sich anzumaßen, eine Debatte über Schaden und Nutzen von Techniken und Produkten zu führen und dann zu entscheide­n. Jede Technik wird nach den Interessen derjenigen entwickelt und eingesetzt, die das Geld und die Macht haben; neutral ist sie nie. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Digitalisi­erungsproz­ess der Alleinverf­ügung der Unternehme­n zu entreißen. Es ist zudem sinnvoll, in dieser Entwicklun­g eine Machtfrage zu sehen, deshalb die Sphäre der Produktion zu politisier­en und so zu einer Angelegenh­eit der Gesellscha­ft zu machen.

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