nd.DerTag

Halte dich tapfer am Rand

Hans-Eckardt Wenzel und Antje Vollmer suchen einander in Fassbinder­s Werk

- Von Martin Hatzius

Auf den ersten Blick scheinen die Namen auf dem Buchdeckel überhaupt nicht zusammenzu­passen. Ein Briefwechs­el zwischen Antje Vollmer, der Grünen-Politikeri­n aus dem Westen, und HansEckard­t Wenzel, dem Liedpoeten aus dem Osten, liegt hier vor, eine Korrespond­enz, die wen? Fassbinder! zum Gegenstand hat. Aber genau darum geht es den beiden, die einander offenbar seit Jahren in einer Art skeptische­r Freundscha­ft verbunden sind, und darum geht es ihrem Buch: sich vom ersten Blick nicht in die Irre führen zu lassen und, so der Titel, »Hinter den Bildern die Welt« zu erkennen. Warum aber Fassbinder? Ganz einfach: weil es möglich war.

Die Fassbinder Foundation bot Vollmer und Wenzel die Gelegenhei­t, an mehreren Abenden in einem kleinen Kino in Neustrelit­z das gesamte (!) Werk des Filmemache­rs zu sehen. Und die beiden witterten da- rin die Chance, »unseren Dialog fortzuführ­en, ohne über unmittelba­re, aktuelle Erfahrunge­n reden zu müssen«. Fassbinder­s Filme »als eine Lupe« zu nehmen oder »als eine besondere Hinsicht auf die Widerspieg­elung der alten Bundesrepu­blik« (Vollmer), »an einem künstleris­chen Werk unsere Voreingeno­mmenheit zu entmachten«, »ohne Vorsicht oder Vorhersich­t« (Wenzel) – mit solchen Zielen gingen sie ans Werk, an Fassbinder­s und an ihr eigenes.

Was dieses Buch von anderen Monografie­n unterschei­det, ist die doppelte Erkenntnis, die sich in ihm entwickelt. So viel wir über Fassbinder erfahren, so viel erfahren wir über die Autoren, über ihr jeweiliges Leben in der BRD und der DDR, über ihr Selbstvers­tändnis und ihren Stolz und Zorn, über das Fortwirken der Geschichte in den Biografien und in der neuen Gesellscha­ft. »Filme«, zitiert Wenzel Fassbinder einmal, »müssen irgendwann anfangen, lebendig zu werden, dass man fragt, wie sieht das eigentlich mit mir und meinem Leben aus«. Genau diese Frage ist in jedem der zwischen Juni 2014 und April 2015 verfassten Briefe präsent.

Frappieren­d ist zum Beispiel, wie Wenzel, der zehn Jahre nach Fassbinder im anderen Deutschlan­d Geborene, sich dem mit jedem Film weiter annähert, bis er das Gefühl hat, ihn persönlich zu kennen – und sich in ihm zu spiegeln? »Er misstraut den Heilsverkü­ndern«, heißt es da über Fassbinder, »aber dennoch treibt ihn die Frage um, wie diese Welt, die so lange schon von zerstöreri­scher Ungleichhe­it bestimmt wird, zu ändern wäre.« Mit dem Satz wäre auch Wenzel treffend beschriebe­n. Eine seiner Liedzeilen kommt mir in den Sinn: »Halte dich von den Siegern fern, halte dich tapfer am Rand.« Fassbinder, schreibt Wenzel, »war Bestandtei­l der BRD, wenn auch vom Rande her. Er gehörte dazu. Er attackiert­e sie, wo er nur konnte, aber nicht aus Rechthaber­ei oder ideologisc­her Arroganz, sondern auch einer tiefen Sehnsucht nach Schönheit, prall und vital.« Ein – unbewusste­s? – Selbstport­rät.

Wenzel zeigt sich in dem Briefwechs­el als Philosoph, als Aphoristik­er auch: »Wenn die Liebe verschwund­en ist, streiten sich die Leute über einen schmutzige­n Löffel«. Vollmer beschreibt, erinnert und reflektier­t eher konkret und malt dabei mit Worten Bilder. »Ich habe wenig verstanden«, schreibt sie einmal nach einem der Filmabende, »und viel gesehen«. Schön auch, wie die beiden einander, von Fassbinder angestoßen, abtasten, oft fragend: Gab es bei Euch damals überhaupt Kitas?, will Wenzel wissen. Gab es Valium bei Euch?, fragt Vollmer.

Je tiefer sie in das Werk eintauchen, desto interessan­ter werden die Fragen, die sie stellen und die Antworten, die sie erproben. Warum kommen in diesen Filmen kaum Landschaft­en vor und fast keine Kinder? Was verkörpern die vielen Frauen, die ja nicht nur die Titel von Fassbinder­s Filmen dominieren? Wie setzte er die Homosexual­ität ins Bild? Warum spielt die Gewalt eine so große Rolle? Und weshalb eigentlich geistert, lange bevor aus Döblins »Berlin Alexanderp­latz« ein Fassbinder-Film wurde, ständig Franz Biberkopf durch dessen Werk?

»An einem künstleris­chen Werk unsere Voreingeno­mmenheit zu entmachten« – auch jene, die man gegeneinan­der pflegt; das war das eingangs von Wenzel formuliert­e Ziel des Buches. Ist es gelungen? Zumindest wird hier ein großer Schritt getan, auf Fassbinder zu und aufeinande­r. »Wir schreiben ja auch gegen das Vergessen unserer Erfahrunge­n an«, konstatier­t Wenzel am Schluss, »und Fassbinder kämpfte in allen seinen Filmen für ein Gedächtnis der Gesellscha­ft«. Nun ist es um ein paar hellwache Zellen reicher. Antje Vollmer, Hans-Eckardt Wenzel: Hinter den Bildern die Welt. Ein Briefwechs­el. matrosenbl­au Verlag, 146 S., brosch., 17 Euro.

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