Der sanfte Rebell
Carsten Sieling ist linker Sozialdemokrat und soll Bürgermeister in Bremen werden.
In der Bremer Bevölkerung ist Carsten Sieling für seine Praxistage bekannt. Seit vier Jahren besucht der SPD-Politiker karitative Einrichtungen und Firmen. Dort arbeitet er kurzzeitig als »Praktikant« mit. Sieling lässt sich dabei fotografieren, wie er Koffer am Flughafen schleppt oder Brote in einer Suppenküche schmiert. Letztere sind nicht nur in Bremen immer voller geworden, seit der Sozialstaat zusammengestrichen worden ist. Die Mitverantwortung der Sozialdemokraten für diese Entwicklung ist ein wichtiger Grund dafür, warum sie auch in ihrer Hochburg Bremen immer weniger Unterstützer finden. In den vergangenen zwölf Jahren hat die SPD bei Wahlen in dem kleinen Stadtstaat 9,5 Prozentpunkte verloren. Für Bürgermeister Jens Böhrnsen war das zu viel. Er trat nach der Bürgerschaftswahl am 10. Mai zurück.
Am Dienstag soll Carsten Sieling auf einem Landesparteitag als Nachfolger nominiert werden. Einen Gegenkandidaten gibt es nicht. Als Parteilinker scheint Sieling prädestiniert dafür zu sein, alte Unterstützer für die SPD zurückzugewinnen. Doch allein mit Besuchen in Bremer Armenküchen wird dem 56-Jährigen dies nicht gelingen. Notwendig wären vielmehr große Investitionen, aber die Schuldenbremse schränkt den finanziellen Spielraum des armen Bundeslandes ein. In diesem Spannungsfeld wird sich Sieling in den nächsten Jahren bewegen.
Einen Vorgeschmack darauf hat der Finanzpolitiker vor Kurzem bei einem Treffen mit seinen Genossen in Bremerhaven erhalten. Dort forderten die Anwesenden mehr Mittel für die Bildung, den sozialen Arbeitsmarkt und die Betreuung von Flüchtlingen. Zudem äußerten sich einige Sozialdemokraten kritisch über die Grünen, die bislang die Finanzsenatorin stellen. Sieling bekräftigte, dass er die Koalition mit der Ökopartei fortsetzen wolle. Dies sei nämlich ein Versprechen der SPD gewesen. Tro- cken bemerkte Sieling am Ende der Veranstaltung, er habe hier einen ordentlichen Blumenstrauß gekriegt. »Ich habe gefühlt, dass die eine oder andere Blume darin auch stachelig ist. Dafür muss ich mir wohl Handschuhe besorgen«, sagte der in Nienburg/Weser geborene Mann. Er fügte hinzu, dass dies aber durchaus in Ordnung sei. Solche Auseinandersetzungen gehören zum politischen Geschäft nun einmal dazu.
Rebellisches Verhalten gegen die eigene Führung hat auch Sieling so manches Mal an den Tag gelegt. Von Parteichef Sigmar Gabriel forderte er Korrekturen an den transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Zudem kritisierte er, dass sich Teile der SPD-Spitze von ihren einst erhobenen Forderungen nach Steuererhöhungen für Vermögende und Spitzenverdiener verabschieden wollen. Allerdings gab sich Sieling in der Vergangenheit auch oft mit kleinen Zugeständnissen zufrieden. Den Eintritt der SPD in die Große Koalition unterstützte er.
In Berlin hat sich Sieling, der seit 2009 im Bundestag sitzt, zu einem der wichtigsten Wortführer des linken Parteiflügels entwickelt. Im vergangenen Jahr wählten ihn die Mitglieder der Parlamentarischen Linken (PL) in der Bundestagsfraktion zu ihrem Sprecher. In dieser Funktion bemühte er sich, die zerstrittene und organisatorisch zersplitterte Parteilinke zusammenzuführen. Sieling war maßgeblich am Aufbau der nach ihrem Gründungsort benannten Magdeburger Plattform beteiligt, in der inzwischen alle SPD-Linken organisiert sind. Sprecher der Plattform sind neben Sieling der stellvertretende Parteivorsitzende Ralf Stegner und die Juso-Chefin Johanna Uekermann.
Wenn Sieling im Sommer zum Bürgermeister gewählt wird, muss die PL ihre Suche nach einem Nachfolger abschließen. Trotz seiner wichtigen Aufgaben in Berlin konnte sich Sieling offenbar recht spontan für den Wechsel in die Landespolitik begeistern. Er habe sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, aber sich dann sehr schnell dafür entschieden, das Amt in Bremen zu übernehmen, teilte er mit. Der Bürgermeisterjob ist eine Chance für seinen weiteren Aufstieg in der SPD. Dieser verlief bisher kontinuierlich. Sieling war vor seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter Vorsitzender der Bürgerschaftsfraktion und des Bremer Landesverbands. Seit 2011 ist er Mitglied des SPD-Bundesvorstands.
In die Partei trat Sieling 1976 ein. Damals regierte die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt. Ein wichtiges Versprechen der Sozialdemokraten war damals, vielen Menschen durch die Bildungsexpansion Aufstiegschancen zu bieten. Sieling sieht sich als ein Profiteur dieser Politik. Er studierte im zweiten Bildungsweg Wirtschaftswissenschaften in Hamburg, Bremen und den USA. Vor 16 Jahren schloss er seine Promotion ab. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass Chancengleichheit herrscht«, erklärte Sieling. Doch ausgerechnet bei dem Thema Bildungsgerechtigkeit droht ihm ein erster größerer Konflikt in Bremen. Sieling hat 200 neue Lehrkräfte angekündigt. Das sei wegen des Förderungsbedarfs und des hohen Unterrichtsausfalls zu wenig, kritisierten nicht nur Linksfraktion und GEW, sondern auch Teile von Sielings eigener Partei. Diese wird er nun hinter sich bringen müssen. Für die Konflikte über den Kurs der Bundes-SPD wird Sieling hingegen künftig deutlich weniger Zeit haben.
Als Parteilinker scheint Carsten Sieling prädestiniert dafür zu sein, alte Unterstützer für die Sozialdemokraten zurückzugewinnen. Notwendig wären große Investitionen in Bremen, aber die Schuldenbremse schränkt den finanziellen Spielraum des armen Bundeslandes ein. In diesem Spannungsfeld wird sich Sieling in den kommenden Jahren bewegen.