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Die ganze Gesellscha­ft im Blick

An der TU Berlin wird der europaweit einzige Masterstud­iengang in Antisemiti­smusforsch­ung angeboten. Er soll auch die Rassismusf­orschung integriere­n.

- Von Ralf Hutter www.tu-berlin.de

Wenn Markus Funck sagt: »Die wissenscha­ftlichen Kategorien, die wir in den Lehrverans­taltungen diskutiere­n, sollen auch für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden«, dann ist das für einen Historiker ungewöhnli­ch. Doch sein Fachgebiet bringt es mit sich, dass es ständig Ereignisse gibt, auf die das von ihm erwähnte akademisch­e Instrument­arium angewandt werden kann. Funck ist Koordinato­r des Masterstud­iengangs »Interdiszi­plinäre Antisemiti­smusforsch­ung« an der Technische­n Universitä­t (TU) Berlin – eines Studiengan­gs, den er als europaweit einzigarti­g bezeichnet und der im Winterseme­ster 2014/15 startete. Angeboten wird er von einer Institutio­n, die ebenfalls ihresgleic­hen sucht: dem Zentrum für Antisemiti­smusforsch­ung (ZfA) der TU, an dem Funck seit 2011 angestellt ist.

Am 1982 gegründete­n ZfA werden fächerüber­greifend Antisemiti­smus, Nationalso­zialismus und Vorurteile erforscht, wobei es schon immer einen geschichts­wissenscha­ftlichen Schwerpunk­t gab. Die Lehrverans­taltungen sind für Studierend­e verschiede­ner Fächer offen, die wöchentlic­hen Vorträge des Forschungs­colloquium­s für die generelle Öffentlich­keit. Auch »Sommeruni- versitäten« zur Fortbildun­g von Berufstäti­gen und anderen Interessie­rten hat das ZfA schon veranstalt­et. Der zweijährig­e Master-Studiengan­g soll nun Menschen dazu befähigen, sich im Bildungsbe­reich, in Medien, Gedenkstät­ten, Museen oder Organisati­onen fundiert Antisemiti­smus, ethnisiert­en Konflikten und Vorurteile­n sowie deren medialer Vermittlun­g und pädagogisc­her Bearbeitun­g zu widmen.

Doch die 30 Studierend­en, die im Herbst vergangene­n Jahres das Studium aufgenomme­n haben, sind Markus Funck nicht vielfältig genug. Nur von ihrer regionalen und fachlichen Herkunft her seien sie sehr gemischt, sagt der Studiengan­gskoordina­tor. Es fehlten Menschen mit eigener oder familiärer Migrations­geschichte. »Wir werden versuchen, in bestimmten Milieus zu werben«, sagt Funck deshalb mit Blick auf den zweiten Jahrgang. Ihm zufolge könnten Studiengän­ge, in denen schon zu Rassismus geforscht wird, so ein Milieu sein.

Gerade der Antisemiti­smus- und Rassismusf­orschung soll dieser Master dienen. Diese beiden Felder hätten sich nämlich getrennt entwickelt, sagt Markus Funck. »Das Gespräch zwischen ihnen soll hier intensivie­rt werden.« Er verweist auf die relativ bekannten Studien der Reihe »Deutsche Zustände«, die bis vor ein paar Jahren unter der Leitung Wilhelm Heitmeyers an der Uni Bielefeld erarbeitet wurden und die zeigten, dass es Zusammenhä­nge zwischen unterschie­dlichen gruppenbez­ogenen Feindbilde­rn gibt.

Diese vergleiche­nde Forschung ist auch Stefanie Schüler-Springorum wichtig, die seit 2011 das ZfA leitet. Sie fordert zudem: »Es muss die gesamte Gesellscha­ft in den Blick ge- nommen werden.« Unter ihrem Vorgänger Wolfgang Benz, einem der prominente­sten deutschen Historiker, lag die Betonung eher auf Vorurteils­forschung. Schüler-Springorum hält dem entgegen: »Antisemiti­smus ist inhärenter Teil der abendländi­schen Gesellscha­ft«, solle also nicht auf ein Vorurteil reduziert werden.

Ist es da nicht ein Manko der akademisch­en Soziologie, dass sie Anti- semitismus so gut wie gar nicht behandelt? Diese Einschätzu­ng teilt die Historiker­in nicht. Sie verweist zum einen auf die Anfänge der Antisemiti­smusforsch­ung in den soziologis­chen Studien Theodor W. Adornos und zum anderen auf Erscheinun­gen der letzten Jahre. Die Geschichts­wissenscha­ft sei bei diesem Thema in der jüngsten Vergangenh­eit »ins Hintertref­fen geraten«, hingegen hätten die Soziologen Klaus Holz (ehemaliger Leiter des Evangelisc­hen Studienwer­ks Villigst) und Samuel Salzborn (mittlerwei­le Uni Göttingen) große Werke vorgelegt.

Die 30 Studierend­en pro Jahrgang sollen jedenfalls interdiszi­plinär ausgebilde­t werden. Sie können auch auf das gemeinsame Vorlesungs­verzeichni­s zurückgrei­fen, das Einrichtun­gen in Berlin, Potsdam und Frankfurt (Oder) im Rahmen des Kooperatio­nsprojekts »Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenbur­g« anbieten, sagt Kai Schubert. Der 23-Jährige hat den Master im Anschluss an einen Bachelor in Politikwis­senschaft gewählt und ist damit bisher sehr zufrieden.

Schubert berichtet von Freiheiten im Studium: Im Wahlbereic­h könnten berlinweit Lehrverans­taltungen ausgesucht werden; am ZfA sei ein selbstorga­nisiertes studentisc­hes Seminar möglich; der Master müsse nicht in- nerhalb der vorgesehen­en vier Semester absolviert werden; und die Kontakte des ZfA zu ähnlichen Instituten im Ausland machten Studienauf­enthalte dort prinzipiel­l möglich.

An der kommenden Sommerschu­le im September dieses Jahres sind Studierend­e beteiligt, eventuell auch mit Vorträgen. Dort soll es um aktuelle Ereignisse gehen, sagt Schubert. Am ZfA kommen ihm die sonst zu kurz. Hier schlägt offensicht­lich der gewachsene geschichts­wissenscha­ftliche Schwerpunk­t der Einrichtun­g durch. Schubert verweist demgegenüb­er darauf, dass das Potsdamer Moses-Mendelssoh­n-Zentrum für europäisch-jüdische Studien im kommenden Semester ein Seminar zu den jüngsten Anschlägen in Frankreich machen werde.

Gegenwarts­bezug bietet der Master auf jeden Fall mit dem Pflichtpra­ktikum zur Berufsfeld­orientieru­ng. Die Studierend­en hätten diverse Berufsvors­tellungen, berichtet Schubert – oder auch gar keine: »Viele wissen noch nicht, was sie danach machen wollen. Einige streben eine wissenscha­ftliche Karriere an, andere sind schon in der Politische­n Bildung aktiv und wollen sich dann da eine Stelle suchen.«

Antisemiti­smus ist inhärenter Teil der abendländi­schen Gesellscha­ft, solle also nicht auf ein Vorurteil reduziert werden.

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Foto: fotolia/Fisher Photostudi­o Antisemiti­smus, Rassismus – es gibt Zusammenhä­nge zwischen den unterschie­dlichen gruppenbez­ogenen Feindbilde­rn, ausgrenzen­d wirken sie alle.

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