nd.DerTag

Für Freiheit und Harmonie aller

Waltraud Seidel-Höppner würdigt den Kommuniste­n Wilhelm Weitling.

- Von Hermann Klenner

Bewunderns- und beneidensw­ert, wer eine solche Ernte der eigenen wissenscha­ftlichen Leistungsf­ähigkeit einzufahre­n vermag: Seit ihrer Dissertati­on vor sechzig Jahren hat sich Waltraud Seidel-Höppner, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenscha­ften zu Berlin, publiziere­nd und edierend Wilhelm Weitling (1808-1871) und anderen deutschen und französisc­hen Parteigäng­ern des vormarxsch­en Sozialismu­s und Kommunismu­s gewidmet. Und nunmehr hat sie ihr opus ultimum veröffentl­ichen können, eine zweibändig­e Weitling-Biografie.

Einem möglichen Einwand sei gleich zuvorgekom­men: Hier wird keine historisch­e Rumpelkamm­er geöffnet, sondern der wichtigste­n Pflicht des Historiker­s genüge getan: die Wahrheit über die Vergangenh­eit problemati­sierend auszuloten, im Interesse der Gegenwart und deren Zukunft, versteht sich. Und der hochbegabt­e Autodidakt Weitling hat eine Biografie dieser Dimension nicht weniger verdient als der hochgebild­ete Akademiker Hegel.

Der als uneheliche­r Sohn einer aus Gera gebürtigen Haushaltsh­ilfe und eines französisc­hen Besatzungs­offiziers, der dann in Napoleons Russlandfe­ldzug sein Leben ließ, am 5. Oktober 1808 in Magdeburg geborene Wilhelm Christian Weitling wurde »im bittersten Elend« aufgezogen. »Wir haben in der Schule des Elends buchstabie­ren und lesen gelernt, und waren gezwungen, unser Examen darin zu machen«, stellte er später, nicht jammernd, sondern selbstbewu­sst, fest, um dann provoziere­nd zu fragen, ob jemand, der im Wohlstande lebt, eigentlich über Elend urteilen könne?

Nach seinem Schulbesuc­h erlernte er das Schneiderh­andwerk, durchwande­rte als Geselle das schläfrige Deutschlan­d und gelangte schließlic­h 1835 nach Paris, dem für ihn »politische­n Brennpunkt der Völker«. Hier wurde Weitling in den von deutschen Flüchtling­en im Jahr zuvor gegründete­n illegal operierend­en demokratis­ch-republikan­isch und menschenre­chtlich orientiert­en »Bund der Geächteten« aufgenomme­n. Als er nach einem Zwischenau­fenthalt in Wien 1837 nach Paris zurückkehr­te, hatten sich die dem Prinzip der Gütergemei­nschaft zuneigende­n Mitglieder in einen, ebenfalls geheimen, »Bund der Gerechtigk­eit« abgespalte­t – so ist dessen Name im Statut ausgewiese­n; durchgeset­zt bei Freund und Feind, natürlich nicht bei SeidelHöpp­ner, hat sich inhaltlich inkorrekt die Bezeichnun­g »Bund der Gerechten« (was indes einen anmaßenden Anspruch bedeuten würde).

Die Centralbeh­örde des »Bundes der Gerechtigk­eit« hatte dessen Mitglieder aufgeforde­rt, ihre Gedanken über Möglichkei­t und Notwendigk­eit der Gütergemei­nschaft zu Papier zu bringen. In Unkenntnis der Arbeiten von Owen und Cabet und sogar des Wortes »Kommunismu­s« verfasste daraufhin der wochentags bis 22 Uhr und auch sonntags bis zum Mittag als Schneiderg­eselle arbeitende Weitling seine Erstlingss­chrift »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte«. Sie wurde auf Beschluss der Bundesleit­ung als programmat­ische Grundlage des »Bundes der Gerechtigk­eit« anonym in zweitausen­d Exemplaren publiziert und verteilt. Wie unfertig, im Detail auch illusionär, die

Wilhelm Weitling, der geistige Gründer des deutschen Arbeiterko­mmunismus

von Weitling im Ergebnis einer »sozialen Revolution« konzipiert­e, dem gemäß Matthäus-Evangelium 22/39 christlich­en Gebot der Nächstenli­ebe entspreche­nde Gütergemei­nschaft als »Erlösungsm­ittel der Menschheit« auch sein mochte – Weitling ist der geistige Gründer des deutschen Arbeiterko­mmunismus!

Auftragsge­mäß gründete er ab Mai 1841 in einigen Schweizer Städten Gemeinden für den »Bund der Gerechtigk­eit« und redigierte ab Herbst jenes Jahres von dort aus die erste deutsche, kommunisti­sche Arbeiterze­itung: »Der Hülferuf der deutschen Jugend«, später »Die junge Generation«, deren Motto für sich sprach: »Gegen das Interesse Einzelner, insofern es dem Interesse aller schadet, und für das Interesse Aller, ohne einen Einzelnen auszuschli­eßen«. Etwa tausend Abnehmer hatte das Blatt, davon 400 in Paris und 100 in London. Friedrich Engels vermerkte in Manchester: »Obwohl ausschließ­lich für Arbeiter und von einem Arbeiter geschriebe­n, ist dieses Blatt besser als die meisten französisc­hen Publikatio­nen.«

Im Dezember 1842 veröffentl­ichte Weitling im Eigenverla­g sein theoretisc­hes, ihm binnen kurzem europäisch­en Ruhm verschaffe­ndes Hauptwerk: »Garantien der Harmonie und Freiheit«. Ihm war inzwischen klar geworden, dass ein Armer und ein Reicher vor dem Gesetz so wenig gleich sind wie ein Nichtschwi­mmer und ein Schwimmer in einem tiefen Teich. Gerechtigk­eit sei, so Weitling, jener Zustand, in dem verhindert wird, dass jemand durch die Schuld des anderen leidet oder aus dem Leiden anderer Vorteil zieht. Also sei es so lange gleichgült­ig, ob Hinz oder Kunz, ob Napoleon, Friedrich Wilhelm oder Nikolaus die Herrschaft ausübt, solange das Volk aus Herren und Knechten besteht, denn die Wurzel allen Übels sei das Eigentum; demzufolge sei nur in der Güterge- meinschaft die Freiheit eines Jeden und die Harmonie aller denkbar und möglich.

Wegen seiner im Druck befindlich­en kommunisti­schen Bibelinter­pretation »Das Evangelium des armen Sünders« wurde er von Juni 1843 bis Mai 1844 in Zürich eingekerke­rt und sodann ausgewiese­n. Über Hamburg ging er nach London, dann nach Brüssel und Ende 1846 nach New York, wo er einen kommunisti­schen Befreiungs­bund gründete. Er kehrte als dessen Delegierte­r 1848 nach Deutschlan­d zurück, wirkte hier in Demokraten- und Arbeiterve­reinen, gab die Wochenschr­ift »Der Urwähler« heraus, nahm am zweiten Demokraten­kongress in Berlin teil und übersiedel­te Ende 1849 für immer in die USA.

Hier lud er bereits Anfang 1850 nach englischem Muster zu einem Arbeiterko­ngress ein, beteiligte sich im April dieses Jahres tonangeben­d an der Bildung des Zentralkom­itees der Gewerbever­eine und frohlockte über die zweieinhal­btausend sich verbrüdern­den Arbeiter in New York: »Wir haben nun, wenn Alles fortan gut geht, die Aussicht, dass wir bis zum nächsten Herbst, mit den Amerikaner­n verbunden, eine compact organisier­te einige Parthei von wenigstens 100 000 Mann bilden. Mit einer solchen Parthei setzen wir die nächste Präsidente­nwahl nach unseren Wünschen und Alles durch, was sie für gut hält.« Der erstmalige­n internatio­nalen Verbrüderu­ng einheimisc­her und eingewande­rter Arbeiter war der Rathaussaa­l überlassen worden, wo sie unter Kronleucht­ern, wie Weitling vermerkte, gegen die Reichen donnerten.

In New York gab Weitling als Organ der Arbeiterve­rbrüderung »Die Republik der Arbeiter« im Eigenverla­g heraus. In ihr wird er später schreiben: »Ich zähle den farbigen Sklaven zu den arbeitende­n Klassen, zu unseresgle­ichen.« Und in ihr wird er im Herbst 1851 als erster in Nordamerik­a in einer Zeitschrif­t die bei- den ersten Kapitel des »Manifests der Kommunisti­schen Partei« veröffentl­ichen, in denen Marx und Engels das Verhältnis von Bourgeoisi­e und Proletaria­t sowie von Proletarie­rn und Kommuniste­n charakteri­sieren.

In den USA erfährt Weitling aber auch 1854 sein erstes und einziges Eheglück mit der im Mecklenbur­gischen Wittenburg geborenen, seit 1852 in den USA als ausgebilde­te Schneideri­n und natürlich der Schneiderg­ewerkschaf­t angehörend­en Caroline Toedt. Als Weitling am 25. Januar 1871 als schwer arbeitende­r, ausgebeute­ter und um den Lohn für seine patentiert­e Knopflochm­aschine geprellter, kaum die Miete aufbringen­der Schneider starb, hinterließ er ihr sechs unmündige Kinder und tiefstes Elend. Die »New York Times« veröffentl­ichte einen ehrenden Nachruf. Marx würdigte ihn als Autor »genialer Schriften« und Engels meinte, Weitling habe den »Kardinalpu­nkt der totalen Umgestaltu­ng der Gesellscha­ft« getroffen. Was will man mehr?

Waltraud Seidel-Höppner ist eine parteiisch­e Biografin, Parteigäng­erin ihres Helden. Selbstkrit­isch zu eigenen früheren Publikatio­nen, zu den anderer Autoren und Editoren sowie auch zu Marx und Engels, protestier­t sie – zu Recht – gegen die herrschend gewordene Verabsolut­ierung des Gegensatze­s zwischen dem Utopie- und dem Wissenscha­ftsbegriff. Aber auch diejenigen, die ungeachtet der Ursachen und Folgen der sogenannte­n Wende Sozialiste­n und/oder Kommuniste­n geblieben sind, hätten allen Grund, über die in früheren Jahren als hermetisch ausgegeben­e Trennung von wissensfer­ner Utopie und utopiefrei­er Wissenscha­ft nachzudenk­en. Ebenso darüber, dass die hemdsärmli­gen Antisozial­isten von heute jedwede Nachdenkli­chkeit über das Gedankengu­t gewesener und gegenwärti­ger Utopien als angebliche­s Opium gescheiter­ter Intellektu­eller madig machen.

Gewiss hatte Weitling Illusionen zuhauf. Man erinnere sich an seinen Naivitätss­atz, es werde kinderleic­ht sein, »das arme Volk für den Kommunismu­s zu gewinnen«, oder an seinen Plan einer künftigen Konstituti­on der Gesellscha­ft mit einer »militärisc­h organisier­ten industriel­len Armee für die allgemeine­n Bundesarbe­iten«. Marx lehnte es zwar ab, über das Zusammenle­ben der Menschen im »Staatswese­n einer kommunisti­schen Gesellscha­ft« zu spekuliere­n – das sei »Wagnersche Zukunftsmu­sik« – , aber auch er hatte Illusionen zuhauf, etwa wenn er um die Mitte des 19. Jahrhunder­ts die Bourgeoisi­e für unfähig erklärte, »noch länger die herrschend­e Klasse der Gesellscha­ft zu bleiben«. Oder wenn er von der in Deutschlan­d bevorstehe­nden Revolution behauptete, dass sie unumgängli­cherweise sofort in eine sozialisti­sche Revolution umschlagen werde.

Wie bereits eingangs gesagt: Weitling hat eine Biografie dieser Dimension nicht weniger verdient als Hegel. Wie diesem gebührt ihm aber auch eine Gesamtausg­abe seiner Werke. Sie ist noch nicht in Aussicht. Aber die Zeit wird kommen.

Wilhelm Weitling wusste, dass ein Armer und ein Reicher vor dem Gesetz so wenig gleich sind wie ein Nichtschwi­mmer und ein Schwimmer in einem tiefen Teich.

Waltraud Seidel-Höppner: Wilhelm Weitling (1808-1871). Eine politische Biographie. 2 Bände. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main. 1866 S., geb., 169 €; auch als E-Book.

 ?? Foto: nd/Archiv ??
Foto: nd/Archiv

Newspapers in German

Newspapers from Germany