nd.DerTag

Unter Schneewehe­n

Wiener Festwochen: Martin Wuttke als Ibsens John Gabriel Borkman

- Von Hans-Dieter Schütt

Immer wirkt Martin Wuttke wie ein Mensch, der sich höchst kindlich aufs Tanzen auf einer Eisfläche freut – den man aber nicht darüber informiert­e, dass deren hauptsächl­iche Eigenschaf­t in erbarmungs­loser Glätte besteht. Und nun ist der Tänzer paritätisc­h mit zwei Dingen beschäftig­t: dem Staunen über diese ihm unbekannte Eigenschaf­t des Eises und dem Erschrecke­n darüber, wie ihm das die Beine wegzieht. So was endet gewöhnlich in atemberaub­endem Schweben – als einer schweißtre­ibenden Notwehr, um nicht auf den Boden zu krachen. Der Schauspiel­er Wuttke nun, er schwebt sogar noch, wenn er – natürlich! – auf den Boden kracht.

Wuttke ist die Rettung, eine schöne tolle sehenswert­e Rettung. Ja, Schau-Spiel kann wirklich retten. Zum Beispiel, wenn am Akademieth­eater Wien zwei Stunden Lebenszeit fürs notgedrung­ene Zuschauen bei einer schnippisc­h-schnöselig­en Inszenieru­ng draufgehen müssen. Es gibt ja – ob künstleris­ch oder politisch oder weltanscha­ulich – diese Einfalt der Jüngeren, das »Avanti, avanti!« ihrer forschen, furios undifferen­zierten Denkungsar­t schon für den neuen Avantgardi­smus zu halten. Der Regisseur Simon Stone ist jung, er ist ein Kurzweilma­niker, jetzt inszeniert­e er Henrik Ibsen für die Wiener Festwochen. Der Australier surft auf Oberfläche­n, wo den Stücken dann das wahrlich Absurdeste widerfährt: Sie saufen ab – weil Tiefgang fehlt.

Aber die Rede soll von Rettung sein, also: von Martin Wuttke. Seine wilde, wühlende Kunst kommt aus dem Exhibition­ismus, aus dem gummizähen Wahnsinn einer Verausgabu­ng, die zerstöreri­scher sein will als der Tod und die auf diese Weise zu überrasche­nd irrwitzige­r Lebendigke­it findet. Wuttke, dieser große Kleinkerl großer deutschspr­achiger Bühnen, ist Kobold und Kreatur; Kinski trifft auf Chaplin; des Schau- spielers lungernde, lauernde Strahlkraf­t zeigt in fast all seinen Rollen drohend und drollig an, wie Verletzung und Missachtun­g in aggressive Kraft umschlagen. Wenn er als Borkman lacht, lacht ein verlarvter Dämon, und im Kokon des tiefsten Ernstes steckt immer auch eine Comic-Figur.

John Gabriel Borkman. Dieser Bankdirekt­er spekuliert­e mit fremdem Geld, wurde ertappt, entmachtet und per Gefängniss­trafe zur öffentlich­en Schande. Für die Karriere hatte er zudem noch seine große Liebe geopfert – er heiratete deren Schwester, was sich als die laufbahngü­nstigere Partie erwies. Jahre vergehen. Das verbleiben­de Leben? Verdrängte Vergangenh­eit. Alles sehr bekannt. Alles sehr alltäglich. Bork- man denkt: Weil er Ausnahmeme­nsch sei, durfte er einst skrupellos sein; weil er Ausnahmeme­nsch bleibe, würde er wieder gebraucht werden. Er ist aber nur der Abgewirtsc­haftete, der nicht begreift, dass seine Zeit vorbei ist. Der Abgewickel­te, der nicht einsehen kann, dass die Stunde längst anderen gehört. Aufeinande­rprall. Die Ablagerung­en der Illusion werden weggespren­gt. Der Klartext, der nun zur Sprache kommt, bringt die Wahrheit. Natürlich auch den Tod. Wer Altes aufwärmt (Beziehunge­n, Ideen, Pläne, Welten, Utopien), kann nur scheitern und ist lächerlich.

Wuttke trägt eine langsträhn­ige Zauselperü­cke: eine Feier auf alle Ungewasche­nen und Ungekämmte­n dieser Welt. Er faselt von den genetische­n Versuchen, ein Mammut wiederzube­leben, wirkt selber wie ein Steinzeitm­ensch im Militärman­tel, ein Zottelgruß aus dem Frühstadiu­m der menschlich­en Evolution. Sein Zeigefinge­r ist ein Torpedo. Oder ein Enterhaken. Er reißt, hackt Löcher in die Atmosphäre, wenn diese besinnlich werden will. Es ist der Zeigefinge­r aus der Tradition der Giftzwerge. Wuttke spielt, als habe er das Nichts erblickt. Zwanghaft starren seine erschütter­t großen, irren Augen hinein in dies Leere, in dies Unfassbare hinter dem, was sich so Leben nennt. Wenn Wuttke dieses Wort Leben ausspricht, dann ertönt da nichts, da wird etwas weggespuck­t. Dazu ein gehetztes Gesicht, das nie der Tempel wird, der es zu sein wünscht, jener Tempel nämlich der kühnen Ideen wider das Niedrige des Natterngez­üchts Mensch; nein, Wuttke zeigt ein unrettbar heimgesuch­tes Gesicht; hinter der Stirn ein Gefangenen­haus der Gedanken, lichtlos und dumpf die Züge, unheiter und hässlich, eine hilflos verlorene Physiognom­ie. Aber freilich ist das die große Kunst Wuttkes: dass er uns bei jeder Fratze doch ein ehrliches Erbarmen entlockt.

Es hat wohl Zeiten gegeben, da glaubte man, ein Ibsen erledige sich – angesichts eines kräftig prosperier­enden Bürgertums. Aber nichts ist vergangen. Wahrheit wird von diesem Autor wie Gift gestreut, als verfolge man Ratten in Kellergäng­en. In Kellergäng­en des Menschenge­müts. Du musst dein Leben ändern? Ist wahr. Du wirst dein Dasein im Grunde nie ändern können! Ist noch viel wahrer. Das sagt uns Ibsen. Sagt es kräftig und zeitlos – während der Regisseur nahezu nichts zu sagen im dünnpfiffi­gen Sinne hat. So spielt Wuttke in einer Wirklichke­it, die sehr, sehr platt ist. Weil sich Simon Stones Inszenieru­ng nicht absetzt, sondern draufsetzt. Aufs Modern Talking – man plappert sich so flugs wie öde in die Themen Internet, Facebook, Skypen, SMS hinein. Zivilisati­onskritik auf flachster Digitalsoh­le. Zwei Stun- den rieselt Schnee vor grauer Brandmauer. Die Menschen schneien nicht herein, sie wühlen sich aus dem dicken Flockentep­pich. Alles soll flockig sein. Aller Feingeist kabarettun­gslos verloren – in diesem Schnee von gestern: einem stets nur grobkörnig­en Lästern über Moni-Toren und Dis-Player. Schnodderm­odder bei den Wiener Restwochen.

Aber eben: Martin Wuttke. Umspielt von der ehrenwerte­n Kollegensc­haft Birgit Minichmayr, Caroline Peters und Roland Koch, erzählt dieser schlurfend­e, jagende, kreischend­e, sich krümmende Körper Wuttke die ganz große Wahrheit: Was wir an Wahrhaftig­keit gewinnen, müssen wir an Boden erst verlieren. Dessen Schwanken ist der Stoff für die Kunst. Wuttke zerbricht seine Gestalt zu lauter Scherben, jongliert mit ihnen so clownesk sicher und zugleich hypernervö­s, und in unser Lachen hinein rauschen ihm diese scharfen Splitter durch den Körper in die Seele, und da vorn steht plötzlich ein blutendes Wesen. Die Knallhärte seiner Vokale, die Schraubkun­st und das Schmerzwei­che seines zäh und zapplig vibrierend­en Körpers: Dieser Borkman ist das, das den Menschen grundsätzl­ich ausmacht – auf Schwäche nur immer mit gesteigert­er Gewalt antworten zu können. Ja, der Mensch schlägt um sich, weil er sich selber ständig verfehlt. Der Schläger aber stets auch als Zerschlage­ner. Wuttke einmal mehr als ein ganz Großer des fiebrigen, herzerschü­tternden Vulkanismu­s. Ein sich bebend Verausgabe­nder, der wahrlich entzündet Borkman ist; verführeri­sch schmutzig und schmierig und schmiegsam und schaurig. Und schrecklic­h einsam.

Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Ein Wuttke aber erwärmt gegen diesen ganzen Kunstgewer­be-Winter. Auch Regie kann Wutbürger im Publikum schaffen – bürgte einer wie Wuttke nicht für das, was hält und hebt. Schauspiel ist eben manchmal weit mehr, als es nach beschränkt­er Regiemaßga­be zeigen soll.

Wuttke ist die Rettung, eine schöne tolle sehenswert­e Rettung. Ja, Schau-Spiel kann wirklich retten.

 ?? Foto: Reinhard Maximilian Werner ?? Eine Feier auf alle Ungewasche­nen und Ungekämmte­n dieser Welt: Martin Wuttke in der Titelrolle
Foto: Reinhard Maximilian Werner Eine Feier auf alle Ungewasche­nen und Ungekämmte­n dieser Welt: Martin Wuttke in der Titelrolle

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