Dienst nach Vorschrift
Moskauer Ärzte wehren sich gegen Überforderung des Personals und Wartezeiten für Patienten
Die staatliche Gesundheitsversorgung in Russland, für Patienten kostenlos, gerät zunehmend unter das Diktat von Sparauflagen. Nicht nur Patienten leiden darunter, sondern auch Ärzte.
Knapp drei Monate dauerte es bis zur ersten offiziellen Disziplinarmaßnahme. Jekaterina Tschatskaja, die als Gynäkologin an einer Moskauer Poliklinik praktiziert, wurde Mitte Juni zur medizinischen Aufsichtsbehörde zitiert. Die Ärztin nimmt seit dem 24. März an einem unbefristeten Arbeitskampf der Basisgewerkschaft »Aktion« teil, den diese in sieben Moskauer Polikliniken führt – unter der Devise »Dienst nach Vorschrift«. Als Vorwand für die Vorladung diente eine von ihr eingereichte Beschwerde. Wegen mangelnder Kapazitäten der örtlichen Poliklinik sehe sie sich außerstande, Frauen in den ersten Schwangerschaftsmonaten zu einer Ultraschalluntersuchung zu überwei- sen. Die Wartezeiten ziehen sich über – aus medizinischer Sicht kostbare – Wochen. Jekaterina Tschatkskaja beginnt ihren Arbeitstag früher, als sie verpflichtet ist, und beendet ihn später, um ihre Patientinnen zu versorgen. Ihr Arbeitgeber und die Behörde wissen das; trotzdem wollen sie die Ärztin nun zurechtweisen. Mit der absurden Anschuldigung, sie habe ihre Patientinnen gar nicht über die Möglichkeit kostenloser Ultraschalluntersuchungen informiert.
Erstmals seit 1993 formiert sich in staatlichen medizinischen Einrichtungen in Moskau offener Protest. Kundgebungen gegen den begonnenen Umbau des Gesundheitssystems fanden bereits im letzten Herbst statt, Gehör verschafften sich die von Personalkürzungen und Schließungen mehrerer Krankenhäuser betroffenen Mediziner gleichwohl kaum. Die Reformen sind beschlossene Sache und sorgen für zunehmende Anspannung und Engpässe bei der medizinischen Versorgung. »Optimierung« lautet das verordnete Ziel.
Erste Einschnitte gab es mit der Umstellung des Finanzierungsmodells für staatliche Gesundheitseinrichtungen im Jahr 2010. Bis dahin pauschal aus dem Staatshaushalt bezahlt, müssen die Kosten nun über Einnahmen aus der Pflichtkrankenversicherung gedeckt werden. Allerdings sind die Tarife so gering be- messen, dass es ohne staatliche Zuschüsse kein Auskommen gibt. Der russische Präsident Wladimir Putin schrieb 2012 in seinen »Mai-Dekreten« kräftige Lohnerhöhungen für Ärzte über die nächsten Jahre fest – bei de facto sinkenden Ausgaben für das Gesundheitswesen im Staatshaushalt. Die Folge war immense Arbeitsverdichtung, Facharztstellen blieben unbesetzt oder wurden zu- sammengelegt. Ärzte werden genötigt, Arbeitsverträge zu unterschreiben, die sie zu zusätzlichen Aufgaben verpflichten, aber nicht angemessen vergütet werden. Die Löhne steigen formal, aber nicht den erbrachten Leistungen entsprechend. Dazu kommt die 2012 eingeführte Terminvergabe im Netz. Zwölf bis 15 Minuten werden dabei den Ärzten pro Patient eingeräumt – unabhängig von dessen Krankheitsbild, fast acht Stunden lang ohne Pause oder mit unbezahlten Überstunden. Geltendes Arbeitsrecht wird so ausgehöhlt.
Elena Conteh ist Internistin in der Poliklinik Nr. 220 und hat dort bis zu vier Stellen gleichzeitig ausgefüllt. »Mitte März war ich von dem Dauerstress total ausgelaugt und verzweifelt«, sagt sie. Dann schloss sie sich der Gewerkschaft »Aktion« an und begann »streng nach Vorschrift« zu arbeiten. Der Erfolg belohnte sie für den Entschluss, der ihr nicht leichtgefallen war. In ihrer Klinik wurden plötzlich die Sprechzeiten für Ärzte reduziert, das Einzugsgebiet für Hausbesuche verringert, Sonntagsarbeit besser bezahlt. Allerdings reagierten die Vorgesetzten zugleich mit vehementen Drohungen. Diesem Druck halten nur wenige stand. 40 Ärzte haben sich in Moskau der Aktion angeschlossen. »Ohne die Gewerkschaft im Rücken hätte ich mich dazu nicht durchgerungen«, so Elena Conteh. Der Gewerkschaft »Aktion« geht es allerdings nicht nur um individuelle Verbesserungen, sondern um einen kompletten Umbau des Gesundheitswesens. Elena Conteh hält das als langfristiges Ziel sogar für realistisch. Die Unzufriedenheit beim medizinischen Personal steige und damit auch der Handlungsdruck. Wer Missstände anprangert, muss jedoch mit Konsequenzen rechnen. Im Extremfall sogar körperlichen: Die Chefärztin einer Kinderzahnklinik und zwei ihrer männlichen Stellvertreter griffen einen jungen Arzt tätlich an, der sich beim Moskauer Bürgermeister über die Zustände in seiner Poliklinik beschwert hatte. Die Angreifer wurden vom Dienst suspendiert.
Zwölf bis 15 Minuten werden den Ärzten pro Patient eingeräumt.