Der Osten zieht an
Immer mehr Jugendliche aus dem Westen wollen zwischen Rostock und Ilmenau studieren
Noch vor wenigen Jahren hatte ein Studium im Osten Deutschlands für westdeutsche Abiturienten viel mit Exotik zu tun. Inzwischen profiliert sich gerade Sachsen zur europäischen Ingenieursschmiede.
Mit einem grünen Trabbi waren Tim Vollmer und zwei seiner Freunde daheim im Rheinpfälzischen abgeholt und nach Leipzig kutschiert worden: Man wollte ihnen so das Abenteuer eines »Studiums in Fernost« schmackhaft machen. Als sie zusagten, bezahlte ihnen die sächsische Universität sogar für ein Semester das möblierte WG-Appartement. Im Gegenzug sollte der Mathematikstudent in einem Blog den in der Westheimat verbliebenen Freunden und Bekannten berichten, wie wenig trist, kulturlos und langweilig der Osten sei ...
Auch Tims damaliger Universitätsrektor Franz Häuser, ein Hesse, riet seinen weststämmigen Leipziger Professoren, mal an ihren alten Gymnasien zu berichten, wie »wunderbar es ist, in Leipzig zu studieren«. Sechs Jahre ist das her – und die Stadt ist inzwischen eine Topadresse auch für Abiturienten West. Sie bildeten hier bereits das Gros der Studierenden, sagt Christof Biggeleben. Der Volkswirt aus dem Sauerland engagiert sich für die Kampagne »Studieren in Fernost«, mit der der Bund den Hochschulpakt 2020 begleitet. Im Rahmen der Aktion, die jährlich zwei Millionen Euro kostet, verpflichten sich 43 der 65 ostdeutschen Hochschulen, trotz Geburtenknick ihre Kapazitäten auf hohem Niveau zu halten. Damit soll der Strom jener Erstsemester aufgefangen werden, die zwischen Kiel und Konstanz wegen der teils doppelten Abiturjahrgänge am Numerus Clausus scheitern.
Inzwischen schreiben sich Jahr für Jahr mehr Jugendliche aus dem Altbundesgebiet im Osten ein. Waren es 2005/06 erst 16 Prozent aller hier Studierenden, so kletterte die Quote nun auf knapp 36 Prozent. Nicht alle zieht es dabei nach Leipzig, Dresden oder Rostock. Gerade auch kleinere Hochschulstandorte, die mancher im Westen kaum dem Namen nach kennt, sind immer weniger ein Geheimtipp. Hierzu zählt das thüringische Ilmenau, wo die TU mit einem hoch innovativen in- genieurwissenschaftlichen Campus punktet. Oder das sächsische Freiberg, dessen Technische Universität Bergakademie Weltruf im Montanbereich genießt. Oder Greifswald, direkt am Meer gelegen: Zwei Drittel der 12 000 Studenten, die an der Universität etwa für Pharmazie, Biochemie oder Physik immatrikuliert sind, stammen nicht aus dem Nordosten.
Dabei sind gerade in Greifswald die Mieten und sonstige Kosten für Studierende etwas höher als sonst im Osten. In Chemnitz, Cottbus, Frankfurt/Oder, Neubrandenburg oder auch Leipzig lässt es sich da noch weit besser haushalten. Dieses »Studieren im Osten mit weniger Kosten«, wie es in der Fernost-Kampagne heißt, ist in Euro und Cent belegbar. So muss, wer im Osten studiert, laut einer Analyse der FH Erfurt im Monatsschnitt 53 Euro weniger ausgeben als Studiosi an Rhein oder Isar. Während der bundesweite Mittelwert für Mietausgaben eines Studierenden bei monatlich 281 Euro liegt, fallen im charmanten Erfurt nur 249 Euro an.
Den Vorzug fehlender Studienkosten hat der Osten inzwischen zwar eingebüßt, denn sie werden nirgendwo mehr erhoben. Dafür punkten die Hochschulen mit anderen Werten: hohe Unterrichtsqualität in weniger überfüllten Hörsälen, moderne Ausstattung, geringere Studentenzahlen pro Professor.
Dazu kommt eine zunehmend brillante Forschung. Auch hierfür ließ der Bund mit dem Programm »Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern« gut 220 Millionen Euro bis 2014 springen. Als besonderer Vorzug ostdeutscher Einrichtungen gilt ihre Praxisnähe, gerade im technischen Bereich. Fünf der 18 deutschen TU befinden sich im Osten, neben Cottbus und Ilmenau auch in Chemnitz, Dresden und Freiberg. Allein drei der vier sächsischen Universitäten festigten so ihr traditionelles ingenieur- technisches Profil. Hinzu kommen fünf technisch-wirtschaftlich ausgerichtete FH in Dresden, Leipzig, Mittweida, Zittau/Görlitz und Zwickau.
Für Burkhard Venz, Teamleiter für technische Berufe bei der Arbeitsagentur Leipzig, ist Sachsen damit der »größte Ingenieurausbilder Europas«. Mit einem Abschluss etwa in Maschinenbau oder Verkehrswesen habe ein junger Ingenieur auf Arbeitssuche »bereits wegen der besuchten Hochschule einen Namen«.
Hinzu kommen in Städten wie Leipzig noch eine reiche Kultur- und Kneipenszene, ein Campus direkt im Herzen der City sowie eine Universitätsbibliothek, die sieben Tage die Woche 24 Stunden geöffnet ist. Wem nachts um drei nach Lernen ist, findet problemlos Einlass. Und hinterher geht es womöglich auf ein Bierchen – die Messestadt kennt keine Polizeistunde.
Wenn dennoch drei Fünftel der westdeutschen Abiturienten keinen Bock auf eine Universität in Fernost haben, liegt das mehr am Fernen als am Osten. Denn Umfragen zufolge wollen bis zu 80 Prozent von ihnen am liebsten »direkt um die Ecke« studieren.
Als besonderer Vorzug ostdeutscher Hochschulen gilt ihre Praxisnähe, gerade im technischen Bereich.