nd.DerTag

Wessen Einheit?

Gregor Gysi über das Jahr 1990, Telefonate mit Gorbatscho­w und was Angela Merkel im November 2039 über den Linkspolit­iker sagen wird

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»Überall liegen Scherben herum. Deutschlan­d ist geeint.« Das waren die Worte, mit denen Helmut Kohls Berater Horst Teltschik sein Tagebuch der Wiedervere­inigung beendete. Wiedervere­inigung? Wie Gregor Gysi die Einheit erlebte, warum Angela Merkel mächtig wurde und was aus den Waffen der NVA wurde: ein »nd« zum 3. Oktober.

Hatten Sie Ende 1989, als Sie zum Vorsitzend­en der SED/PDS gewählt wurden, eine Idee, welche Rolle diese Partei irgendwann spielen soll? Noch war es ja die führende Partei der DDR. Das hat sich erst im März 1990 bei der ersten demokratis­chen Volkskamme­rwahl geändert, und das konnten Sie drei Monate vorher nicht wissen. Haben Sie zum Beispiel erwartet, zur Minderheit­spartei zu werden? Dazu muss ich Ihnen eines erzählen. Dass wir schon am 18. März und nicht erst am 6. Mai gewählt haben, lag ausschließ­lich an Modrow, der ja noch DDR-Ministerpr­äsident war, und an mir. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt: »Hans, ich kann die Partei nicht reformiere­n, solange wir die Regierungs­partei sind, sogar die führende Regierungs­partei. Du musst mir jetzt sagen, bis wann du die Probleme gelöst hast, die du unbedingt lösen willst. Dass wir nicht gewinnen werden, ist ohnehin klar, und dann ziehen wir, wenn es nach mir geht, die Wahlen vor und gehen in die Opposition. Dann kann ich die Partei entspreche­nd reformiere­n.«

Das war am Jahresanfa­ng?

Ja, und dann haben wir uns verständig­t, dass der früheste Termin der 18. März ist. Aber das führte zu einer anderen Schwierigk­eit, und die war schon fantastisc­h. Ich hatte gar nicht mitbekomme­n, dass die Volkskamme­r beschlosse­n hatte, was eine Partei alles einreichen muss, wenn sie zur Wahl antritt: die Satzung, die Namen der Mitglieder des Parteivors­tands und einiges mehr – und ein Parteiprog­ramm. Aber wir hatten keins. Wir konnten ja nicht ernsthaft das Parteiprog­ramm der SED vorlegen! Daraufhin mussten Dieter Klein und andere über ein einziges Wochenende einen Programmen­twurf schreiben. Danach saßen wir nochmal ein Wochenende zusammen und stellten uns die Frage, welche Wirtschaft wir anstreben. Wir hatten keine Ahnung, und daraufhin haben wir uns für die »sozialisti­sche Marktwirts­chaft« ent- schieden. Was das genau sein sollte, wussten wir auch nicht, aber wir dachten, das sei doch ein schöner Begriff.

Nun war es so, dass auch das »Neue Deutschlan­d«, das ja unsere Parteizeit­ung war, sich unter sozialisti­scher Marktwirts­chaft nichts vorstellen konnte. Also schrieben sie »soziale Marktwirts­chaft«, und da wir das nicht mitbekomme­n hatten, stand am Ende auch in unserem Programm »soziale« Marktwirts­chaft statt der »sozialisti­schen«. Dafür wurde ich dann von den Linken im Westen witzigerwe­ise immer kritisiert. So war diese Zeit.

Entscheide­nd ist, dass wir die Wahlen vorgezogen haben, weil ich wollte, dass wir in die Opposition gehen. Ich wusste, die Einheit konnte und sollte nicht mehr verhindert werden, das war völlig klar nach meinem Gespräch mit Gorbatscho­w Anfang Februar. Jetzt ging es eigentlich nur noch um die Frage: Treten wir dem Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes bei oder machen wir eine Vereinigun­g auf der Grundlage von Artikel 146 des Grundgeset­zes? Das hätte bedeutet: Es muss eine neue Verfassung erarbeitet werden, die hätte durch einen Volksentsc­heid in beiden deutschen Staaten angenommen werden müssen, und dann bilden wir einen neuen deutschen Staat, der die Rechtsnach­folge sowohl der DDR als auch der BRD antritt. Aber dazu waren die anderen nicht zu bewegen. Das war dann die eigentlich­e Auseinande­rsetzung. Erst wollte es auch die SPD, aber am Schluss waren wir die einzigen, die das gefordert haben, außer wohl Bündnis 90.

Sie haben den Namen Gorbatscho­w erwähnt. Mich würden auch andere Begegnunge­n mit Personen der Zeitgeschi­chte interessie­ren.

Gorbatscho­w war eine imponieren­de Persönlich­keit. Als ich ihn am 1. Februar 1990 traf, war er allerdings sehr nervös. Seine Augen bewegten sich hektisch, wenn er etwas erzählte, und ich merkte, dass er sporadisch entscheide­t, weniger strategisc­h. Gor- batschow erzählte mir, er wolle am nächsten Tag dem Plenum des Zentralkom­itees der Kommunisti­schen Partei vorschlage­n, dass die Sowjetunio­n einen Präsidente­n wählt, und er wolle selbst für das Amt kandidiere­n.

Ich stellte ihm die Frage: »Und über welchen Apparat verfügt der Präsident, um Dinge durchzuset­zen?«

Er antwortete nur: »Budjet, budjet.«, das heißt: »Es wird, es wird.«

Da wusste ich: Er hat keinen Apparat. Mit dem Parteiappa­rat geht es nicht, die Regierung wird nicht machen, was er will – und dann gibt es einen Präsidente­n, der kein Instrument besitzt, um etwas durchzuset­zen. Trotzdem war es natürlich für mich eine große Begegnung mit ihm.

Am Telefon hatte ich das erste Mal Mitte Dezember 1989 mit ihm gesprochen. Da sagte er: »Wenn du die SED aufgibst, gibst du die DDR auf. Wenn du die DDR aufgibst, gibst du die Sowjetunio­n auf.«

Ist das der Hauptgrund, aus dem Sie die Partei nicht aufgelöst haben?

Das war auch einer, aber wissen Sie, was ich Gorbatscho­w geantworte­t habe? Ich sagte: »Also höre mal, mir reicht schon mein Verein auf meinen Schultern. Du kannst nicht noch bei einem kleinen Advokaten die ganze Sowjetunio­n mit draufpacke­n.«

Da musste er doch mal einen Moment lachen, weil er an sich ja ein humorvolle­r Mensch ist. Allerdings war er in einem so sagenhafte­n Stress, man kann sich das gar nicht vorstellen. Er hat Stärken, aber ich sage Ihnen auch, was seine Schwäche ist. Er hat einen Fehler begangen: Er hat politische Reformen vorgehabt, aber es ist ihm nichts für die Wirtschaft eingefalle­n. Die Chinesen machen es umgekehrt – immer erst die Wirtschaft­sreformen, und dann kommt die Politik. Es ist schon interessan­t, dass sie – aus ihrer Sicht – erfolgreic­her sind, weil sich die Wirtschaft entwickelt. Allerdings warten wir in der Politik noch heute.

Gorbatscho­w hatte eine weitere Schwäche: Er meinte, die Dinge müssten immer so kommen, wie er sie geplant hat, beziehungs­weise umgekehrt: Die Dinge seien so gekommen, weil er sie so geplant hat. Das ist natürlich auch eine Frage der Eitelkeit. Er sagte, dass er schon ab 1987 an die deutsche Einheit gedacht hätte. Ich glaube ihm da kein Wort. Ich denke, dass er das so erzählte, um zu sagen: »Seht ihr, es ist so gekommen, wie ich es mir vorgestell­t habe.« Denn der Satz, den er mir im Dezember 1989 zur Rettung der DDR gesagt hatte, klang völlig gegenteili­g. Allerdings war er am 1. Februar 1990, als ich bei ihm war, schon wieder anderer Auffassung, was die deutsche Einheit betrifft. Ich habe also erlebt, wie schnellleb­ig diese Zeit war.

Im Dezember 1989 war er, glaube ich, noch nicht so weit. Erst im Januar. Und das wiederum wusste ich im Februar, denn er hatte mit Modrow, der vor mir dort war, schon über Deutschlan­d einig Vaterland gesprochen. Dann ging es eigentlich eher nur noch um die Bedingunge­n.

Wenn man Sie seit 1989 erlebt hat und hätte es nicht gewusst, dann hätte man nie im Leben gedacht, dass Sie ein »Ossi« sind. Woher kommt dieses kulturell Westliche an Ihnen und Ihrer Familie?

Meine Mutter hatte vor 1933 schon ein Jahr in Südafrika gelebt, und sie war ebenfalls für ein Jahr in Großbritan­nien. Mein Vater war viel in Frankreich und in Belgien. Meine Mutter sprach natürlich perfekt Deutsch, Russisch ebenso, außerdem sehr gut Englisch und Französisc­h. Mein Vater sprach auch ganz gut Englisch und Französisc­h, allerdings kein Wort Russisch. Sie waren durch die Welt gekommen, und sie hatten viele Freunde in anderen Ländern.

Als ich ein Kind war, war die Grenze ja noch offen. Aber das Privileg der Kindheit bestand, glaube ich, für meine Schwester und mich darin, dass wir auch nach dem Mauerbau Besuch hatten, den es sonst in der DDR nicht gab. Ich erinnere mich an Besucher aus Südafrika und den USA, und wir hatten relativ viele Gäste aus Frankreich, Belgien und Großbritan­nien. Da gab es zum Beispiel einen Briten, der großen Wert darauf legte, kein Engländer, sondern Schotte zu sein, das hat er mir erklärt. Dadurch habe ich Dinge erfahren, die andere nicht mitbekomme­n konnten.

Ich bin kürzlich einmal gefragt worden, in welchem Staat ich geboren bin. Und meine Antwort lautete: »Weiß ich nicht.« Meine Eltern wohnten zum Zeitpunkt meiner Geburt, 1948, in Berlin-Nikolassee. Geboren wurde ich aber im Oskar-ZiethenKra­nkenhaus in Lichtenber­g. Das eine war amerikanis­ch besetzt, das andere sowjetisch. Das Deutsche Reich war meines Erachtens 1945 untergegan­gen, die DDR und die Bundesrepu­blik gab es noch nicht, die wurden beide erst 1949 gegründet. Ich weiß nicht, in welchem Staat ich geboren bin! November 2039, wir feiern den 50. Jahrestag des Mauerfalls. Gregor Gysi sitzt 91-jährig auf der Bundestags­tribüne ... Wieso das denn – da bin ich doch Alterspräs­ident! (Lacht) ... auch gut. Und Altbundesp­räsidentin Angela Merkel hält die Rede. Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: Was soll sie über Sie sagen? Darüber, was in der Geschichte von Ihnen geblieben ist, wie Sie Deutschlan­d verändert haben? Ich glaube, dass man bei diesem Jahrestag gar nichts über mich sagen wird. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob ich dann noch lebe. Zu sagen, was man selbst bewirkt hat, ist schwierig, weil man sich selbst nicht einschätze­n und schon gar nicht loben, aber sich auch nicht zu klein machen soll. Eigentlich überlasse ich das lieber anderen.

Aber wenn Sie es so wollen: Ich glaube, ich habe an einigen Dingen mitgewirkt. Das eine ist mein Anteil an der Überführun­g der Eliten – der künstleris­chen, wissenscha­ftlichen, technische­n, medizinisc­hen, pädagogisc­hen und anderen Eliten – aus der DDR in die Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Es gab keine andere Partei, die sich dieser Aufgabe stellte. Übrigens zunächst auch kein Medium. Das war äußerst schwierig, und ich glaube, dass es einigermaß­en gelungen ist.

Das Zweite ist ein Anteil daran, Deutschlan­d europäisch normalisie­rt zu haben. In der alten Bundesrepu­blik Deutschlan­d war eine Partei links von der Sozialdemo­kratie im Bundestag völlig undenkbar. So etwas gehörte überhaupt nicht zum akzeptiert­en politische­n Spektrum, während es in Ländern wie Italien, Frankreich oder Spanien völlig üblich war. Selbst die Grünen mussten lange Wege gehen. Ich glaube, dass meine Partei heute in der Gesellscha­ft als zum demokratis­chen Spektrum dazugehöri­g akzeptiert ist. Das heißt nicht, dass sie von den meisten gewählt wird, sondern dass die meisten sagen: Es ist okay, dass es auch diese Partei gibt.

Das Dritte, das mir wohl ganz gut gelungen ist: Meiner Partei den Wert des Grundgeset­zes, den Wert der Rechtsstaa­tlichkeit und der Demokratie beizubring­en. Heute bin ich relativ sicher, dass sie das auch in Zukunft hüten wird. (…)

Vielleicht noch eine Sache: dass ich ein bisschen einen anderen Stil in die Politik gebracht habe. Es kann nicht immer nur ernsthaft sein. Ich brauche auch Unterhaltu­ngsmomente. In Deutschlan­d ist die Ansicht verbreitet, dass nur derjenige seriös ist, der kotzlangwe­ilig ist. Ich glaube, dass ich diese Ansicht ein bisschen widerlegen konnte.

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Foto: Ostkreuz/Ute Mahler
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