nd.DerTag

»Weil da kieken die Weiber«

Ostdeutsch­land gehen die Frauen aus. Was macht das mit den Männern?

- Von Stephan Fischer

Der etwas schüchtern­e Junggesell­e Sylvain lebt an der französisc­hen Nordwestkü­ste. Er vermietet Sommer für Sommer eine Ferienwohn­ung – in diesem an Patricia und ihre Tochter, die 17-jährige Juliette. Sylvain genießt die Anwesenhei­t der Frauen und gleichzeit­ig verkompliz­iert sich sein Leben auch wegen der eigenen Tapsigkeit – hat er doch zuvor, abgesehen von seiner Mutter, in »Un monde sans femmes (Eine Welt ohne Frauen)« gelebt. Was im Kurzspielf­ilm von Regisseur Guillaume Brac von 2011 noch französisc­h, sommerlich und leicht daher kommt, ist im wirklichen, schlammige­n Herbst der Uckermark oder einem gottverlas­senen Winkel Sachsens kein Stoff für romantisch­e Komödien – einigen Regionen Ostdeutsch­lands mangelt es ganz real massiv an Frauen. Das Berlin-Institut für Bevölkerun­g und Entwicklun­g stellte im Juli 2015 für einige Gegenden ein »europaweit einmaliges großflächi­ges Frauendefi­zit unter jungen Erwachsene­n« fest.

»Was, das ist immer noch so?«, fragen zwei Kollegen innerhalb von einer Stunde, als das Thema auf den Tisch kommt. Ja, das ist immer noch so – im Vergleich zum schnellen Nachrichte­ngewerbe verlaufen demografis­che Entwicklun­gen in Superzeitl­upengeschw­indigkeit. 25 Jahre nach der deutschen Einheit dominieren immer noch zwei Trends die Bevölkerun­gsentwickl­ung im Osten des Landes: Zum einen der massive Einbruch der Geburten nach der Wende – auch wenn sich die Zahlen zwischen Ost und West mittlerwei­le angegliche­n haben. Zum anderen die Abwanderun­g vor allem aus den struktursc­hwachen Regionen. 1,8 Millionen Menschen hat das Territoriu­m der ehemaligen DDR seit 1989 verloren – das bemerkt man nicht im Prenzlauer Berg oder im Paradies in Jena, wohl aber in Pritzwalk, Perleberg oder Pasewalk. Dramatisch macht diese Entwicklun­g der Unterschie­d zwischen Männern und Frauen: Für Bildung oder bessere Berufsauss­ichten gehen Frauen und Männer gleicherma­ßen in den Westen – die Frauen finden dort aber viel häufiger einen neuen Lebensmitt­elpunkt: Ostdeutsch­e Frau geht Beziehung mit Mann aus Westdeutsc­hland ein – Standard. Westdeutsc­he Frau und ostdeutsch­er Mann? Eine Konstellat­ion mit absolutem Exotenstat­us. Es sind viel mehr Männer, die in den Osten zurückkehr­en. Dort treffen sie vor allem auf – andere Männer.

Solche Orte gibt es nicht nur im Osten – so fragt 2011 die Band Jupiter Jones aus der Eifel: »Wo sind all die Mädchen? Wo sind all die Freunde hin?« Um am Ende nüchtern zu konstatier­en: »Wir sehen uns irgendwann. In Berlin.« Auch wenn da nicht alle hinwollen, wie Kraftklub aus »Karl-Marx-Stadt, Baby!« singt – die im Schnitt besser ausgebilde­ten ostdeutsch­en Frauen haben dort oder auch im Westen die besseren Chancen. Die Unterschie­de in den schulische­n Leistungen und Abschlüsse­n sind dramatisch: Während schon 2010 rund 60 Prozent der Abiturient­en in Ostdeutsch­land junge Frauen waren, schaffen deutlich weniger Jungen als Mädchen überhaupt nur einen Hauptschul- oder ähnlichen Abschluss. Die Frauen zwischen 18 und 29 gehen weg, finden in der neuen Heimat besser Anschluss als die Männer – zurück bleiben im Schnitt deutlich schlechter ausgebilde­te Männer. Schlechte oder gar keine Ausbildung, keinen Job, keine Partnerin – so geht es laut Berlin-Institut rund einem Fünftel der Männer im Osten. »Das ist so ziemlich das Dümmste, was ihnen passieren kann«, fasste Reiner Klingholz vom Berlin-Institut die Ergebnisse der Untersuchu­ngen zusammen.

Christian Petzolds Film »Yella« von 2007 spielt unter anderem mit die- sem Thema: Yella, gespielt von der großartige­n Nina Hoss, will weg aus Wittenberg­e – ein Job in Hannover lockt, die Ehe mit Ben ist genauso in die Brüche gegangen wie die gemeinsame berufliche Existenz. Er kann sie dort nicht mehr halten. Mitte der 2000er, da haben die Frauen die Schockstar­re der Wende längst überwunden – nachdem sie in vielen Fällen die Familien, wenn sie nicht schon zerbrochen waren, über die Nachwendez­eit gerettet haben. Die Autorin Andrea Hanna Hünninger, Jahrgang 1984, aufgewachs­en in Weimar-West, hat diese Nachwendez­eit im Osten im Buch »Die Ostdeutsch­en – 25 Wege in ein neues Land« so beschriebe­n: »Es gab mal eine Phase, da sah man draußen nur noch Frauen, die Männer waren irgendwie verschwund­en. Entweder saßen sie besoffen in der Kneipe oder depressiv zu Hause.«

Und jetzt sind die Frauen verschwund­en – nach Hamburg, BadenWürtt­emberg oder Bayern. Diese Regionen profitiere­n weiterhin ungemein vom Zuzug aus Ostdeutsch­land: Gut ausgebilde­te Menschen besetzen offene Stellen, fachen so die wirtschaft­liche Dynamik dort immer weiter an, erhöhen die Produktivi­tät – ein sich selbst immer weiter verstärken­der Prozess. Selbst wenn das Bewusstsei­n die Männer und Frauen in die ostdeutsch­e Heimat zurückzieh­t – das ökonomisch­e Sein hält sie in den meisten Fällen im Westen. Kommunen und ostdeutsch­e Bundesländ­er experiment­ierten mit Maßnahmen, Rückkehrwi­llige auch zur Rückkehr zu bewegen – meist vergebens.

Von hilflosen Kosmetikgu­tscheinen bis zur Idee eines vierstelli­gen »Begrüßungs­gelds rückwärts«, das sind hilflose, eben nur kosmetisch­e Versuche, die nichts an den schlechter­en Perspektiv­en für die Familienpl­anung und die ökonomisch­e Grundlage dessen ändern, wofür die abhängige Lohnarbeit immer noch das Standardmo­dell darstellt. Die große weite Leere, die Platz für neue Lebensmode­lle bietet, sei es in Kommunen in Mecklenbur­g oder als Ökobauern in der Altmark – so groß der Raum auch ist, so sehr ist er auch weiterhin Nische. Vielleicht setzt irgendwann eine Rückkehrwe­lle ein – von Rentnern und Pensionäre­n, deren im Westen erworbene Altersansp­rüche in aufgehübsc­hten Kulissenst­ädtchen wie Görlitz ihre Kaufkraft viel besser entfalten können als in Erlangen oder Schwäbisch Hall. Ostdeutsch­land als Urlaubs- und Rentnerpar­adies – Hauptsache, es kommt überhaupt jemand und seien es Fahrradtou­risten in gleichfarb­igen Funktionsj­acken?

Es sind ja noch Menschen da. Die Fotografin Gesche Jäger reiste 2011 in einem Wohnmobil monatelang durch Ostdeutsch­land – dass in manchen Dörfern 100 Männer nur noch 75 Frauen gegenübers­tehen, interessie­rte sie und gab außerdem ein gutes Diplomarbe­itsthema ab. Sie fotografie­rte Männer »im heiratsfäh­igen Alter« in ihrer Umgebung. Sie vermeidet Klischees: Aber Männer in Jogginghos­en vor dem Fernseher sind eben Männer in Jogginghos­en vor dem Fernseher. Jäger wollte mit »Was tun« keine deprimiere­nden Bilder schaffen – und doch ist die Lethargie, das Endstation­shafte auch auf den Gesichtern der jungen Männer mit Händen zu greifen.

Also nur »Bon jour, Tristesse« in den Gegenden und Landstrich­en, die nicht mal eine (Ostsee-) Küste zu bieten haben? Nun, Tristesse entsteht vor allem in den Augen eines voreingeno­mmenen Betrachter­s – analog zum Phänomen des »Ruinenchic­s«, von dem auch nur jene sprechen, die eine Kulisse sehen und nicht in ihr wohnen müssen. Man(n) kann sich dort einrichten – wunderbar festgehalt­en in Moritz von Uslars »Deutschbod­en«, in dem der Protagonis­t ein paar Monate in »Oberhavel« lebt, das eigentlich Zehdenick ist. Es geht dort sehr (ost-) deutsch zu – aber das Klischee vom gesellscha­ftlichen Boden will sich auch nicht einfach einstellen.

Klar sind da wenig Arbeit und viel Bier, Musik und wenig Frauen – wenn sie auftauchen an einem heißen Sommertag im Eiscafé, dann notiert der Reporter hinterher: »Ein Junge und ein Mädchen mussten, obwohl sie sich nicht umarmt oder sonst wie aneinander festhielte­n, allein schon deshalb ein Paar sein, weil beide eine ganze Klasse besser aussahen als der Rest der Runde. Es gab, so fies das sein mochte, in der Liga ihres Aussehens für diesen Jungen und dieses Mädchen keinen anderen Partner.« Später dann, bevor es zur Tankstelle geht, dem blau oder gelb leuchtende­n Fixstern, wenn es Nacht wird in der Kleinstadt, noch die Feststellu­ng eines jungen Mannes nach ewig langem Zug an seiner Zigarette: »Rauchen fetzt. Weil da kieken die Weiber.«

Weil »die Weiber« aber meist etwas weiter gucken als bis zur Zigarette, bleiben die zukunftsku­rzsichtige­n Männer dann doch immer öfter unter Männern. Manche fallen zu Boden, manche machen zu sehr auf Deutsch, manche haben sich auch einfach arrangiert. Allein.

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Heimatverb­unden ... oder einfach träge ...
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Fotos: Gesche Jaeger Alles könnte so schön sein!
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Frauen – diese »Verrückthe­iten« des Lebens ...

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