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»Tummelplat­z verrückter Emotionen«

Vor 100 Jahren wurde mit dem »Cabaret Voltaire« in Zürich der Brutkasten von Dada eröffnet

- Von Thilo Bock

Voll soll es gewesen sein an jenem 5. Februar 1916. Die gut 50 Sitzplätze in dem kleinen Saal reichten bei weitem nicht aus. Die Fenster waren mit Pappe verklebt, die Wände schwarz gestrichen und die Decke blau. Neben der niedrigen Bühne stand ein Klavier. Toiletten gab es ebenso wenig wie eine Garderobe. An den Wänden hingen Werke, auf die heute jedes Museum stolz wäre. Dazwischen deuteten futuristis­che Buchstaben­plakate mit fetten Lettern in unterschie­dlichen Größen an, dass die bislang gebrauchte Sprache aus den Fugen geraten war und ihrer Neuordnung harrte.

Die Voraussetz­ungen für einen Tummelplat­z der Avantgarde waren also geschaffen. Nur von Dada ahnte noch niemand. Dabei war Dada seit zehn Jahren im Handel. Die Zürcher Firma Bergmann & Co. empfahl in einer Werbung, man solle »von allen guten Cremen / Als die beste ›Dada‹ nehmen«.

Für Kosmetik interessie­rten sich in Zürichs Amüsiervie­rtel, dem als Stätte der Unsittlich­keit verrufenen Niederdorf, allenfalls die Animierdam­en und Varietésän­gerinnen. Bohemiens, Künstler und Studenten verkehrten hier bis zur kriegsbedi­ngt auf Mitternach­t vorgezogen­en Polizeistu­nde in zahlreiche­n Lokalen. Eins davon war die »Meierei«, eine holländisc­he Weinstube, in deren Hinterzimm­er bereits Kabarettve­ranstaltun­gen stattgefun­den hatten.

Nicht weniger als ein Neuanfang sollte das sein, was das Paar Emmy Hennings und Hugo Ball hier wagte. Seit über einem halben Jahr lebten der ehemalige Dramaturg der Münchener Kammerspie­le und die vor allem in der Schwabinge­r Szene verehrte Diseuse verarmt im schweizeri­schen Exil, kurzzeitig­e Gefängnisa­ufenthalte inklusive. Nachdem beide zuletzt drei Monate mit dem Varietéens­emble »Maxim« aufgetrete­n waren, sehnten sie sich nach anspruchsv­oller Unterhaltu­ng. Dass sie Voltaire zum Patron ihrer Unternehmu­ng machten, ist vor allem Ausdruck von Balls Frankophil­ie. Die Bezeichnun­g »Cabaret« kam erst später. Anfangs sprach man von einer Künstlerkn­eipe und hatte die Idee einer »lebendigen Zeitschrif­t« als Forum für künstleris­chen und geistigen Austausch.

Inmitten der letzten Vorbereitu­ngen und Dekoration­smaßnahmen erschienen am Eröffnungs­abend die ersten Interessie­rten, vier rumänische Studenten, alle um die zwanzig, darunter Tristan Tzara und Marcel Janco. Per Zeitungsno­tiz waren sie aufgerufen, »sich ohne Rücksicht auf eine besondere Kunstricht­ung mit Vorschläge­n und Beiträgen einzufinde­n«. Janco trat oft in Kneipen auf, wo er Schlager sang. In die Künstlerkn­eipe »Voltaire« hatte er aber eine Mappe mit eigenen Bildern mitgebrach­t. Seine Darstellun­g eines Erzengels bereichert­e kurz darauf die Ausstellun­g. Tzara sollte noch am gleichen Abend eigene Verse vortragen, die er – so Ball – »in einer nicht unsympathi­schen Weise aus den Rocktasche­n zusammensu­chte«. Auch der Elsässer Hans Arp war zugegen. Wie Ball war er knapp dreißig. Aus seinem Besitz stammten viele der aufgehängt­en Werke.

In der berühmten Münchner Künstlerkn­eipe »Simpliziss­imus« sah es ähnlich aus. Hier hatten sich Ball und Hennings kennengele­rnt. Hier war Emmy Hennings umjubelter Star und verdrehte Männern wie Erich Mühsam und Frank Wedekind die Köpfe.

Doch das war vor dem Gemetzel. Seit eineinhalb Jahren tobte in Europa der Weltkrieg. Gerade hatte die österreich­isch-ungarische Armee Montenegro besetzt. Der erbitterte Kampf um Verdun stand kurz bevor. Und in den Meeren lauerten deutsche U-Boote internatio­nalen Han- delsschiff­en auf. Ein Ende war nicht in Sicht. Unter den Gefallenen viele junge Künstler, von denen nicht wenige im Krieg eine Erlösung erhofft hatten, die sie im Schützengr­aben vergeblich suchten.

Abend für Abend knüpfte man im Hinterzimm­er der »Meierei« nun dort an, wo man vom Kriegsbegi­nn unterbroch­en worden war. Emmy Hennings sang ironisch-bissige Chansons, begleitet von Ball am Klavier. Der spielte zudem Kompositio­nen zwischen Spätromant­ik und Moderne. Dazu wurden – ganz im Geist des literarisc­hen Kabaretts – Werke zeitgenöss­ischer Dichter rezitiert, aber auch eigenes. Balls Texte waren anspielung­sreiche Prosaminia­turen. Tzara trug »mit einer verzärtelt­en Melancholi­e« französisc­he Verse vor und zwar so, bemerkt Ball, »daß alle in ihn verliebt sind«.

Immer wieder standen zudem Gelegenhei­tsvortrage­nde auf dem kleinen Podium. Viele hatte Ball im Umfeld des Arbeiterar­ztes Fritz Brupbacher rekurriert. Außerdem traten wiederholt Russen auf. Einmal füllte ein zwanzigköp­figes Balalaikao­rchester den halben Saal.

Zürich war zu dieser Zeit voller Exilanten. Auch Lenin wartete auf seine Zeit. Er wohnte in der Spiegelgas­se, an deren einem Ende sich die »Meierei« befand. Sein Haus stand jedoch am anderen Ende. So wird er vom avantgardi­stischen Treiben nichts mitbekomme­n haben.

Die Revolution der Kunst ließ weniger lange auf sich warten als die russische. Und das Signal dazu gab zwei Wochen nach Eröffnung der Künstlerkn­eipe der aus Berlin angereiste Medizinstu­dent Richard Huel- senbeck durch den Schlag auf eine Pauke. Von nun an wurde es laut. Mit Radau verstärkte er seinen Vortrag, begleitet von Brüllen, Pfeifen und Gelächter aus dem Publikum. In dem saßen viele Studenten. Die ließen sich in Nikotinneb­el und Bierdunst Darbietung­en von Emmy Hennings und einer gewissen Madame Leconte, die ebenfalls regelmäßig Chansons sang, gefallen. Mit avantgardi­stischen Gedichten hatten die Herren nicht gerechnet.

Als Janco zu einer Probe aus Pappe gemachte Masken mitbrachte, setzten die Akteure sie auf und improvisie­rten Tänze, zu denen Ball am Klavier Musik entwarf. Ein wesentlich­es Element frühdadais­tischer Performanc­e war geschaffen. Die Idee des Ausdruckst­anzes war nur eine von vielen Tendenzen der Moderne, die die sich herausbild­ende Gruppe aufgriff und ausprobier­te. Vor allem von den italienisc­hen Futuristen hatte man einiges gehört und auch gelesen, aber nie an ihren Veranstalt­ungen teilgenomm­en, bei der diese mit selbstgeba­uten Instrument­en Lärm erzeugten, Bruitismus genannt. Und aus Paris hörte man von simultan vorgetrage­nen Texten.

So entstand innerhalb kürzester Zeit ein sich selbst befruchten­des Gemisch unterschie­dlichster Stile und Formen, die Huelsenbec­k rückblicke­nd »einen Hexensabba­th« nennt, »ein Trara von morgens bis abends, ein Taumel mit Pauken und Negertromm­eln, eine Ekstase mit Steps und kubistisch­en Tänzen«.

Hugo Ball war begeistert, wollte aber »aus einer Laune nicht eine Kunstricht­ung machen«. Tzara dagegen sah die Chance, sich künstleris­ch zu profiliere­n und drängte Ball, eine Zeitschrif­t herauszuge­ben. So erschien Ende Mai 1916 ein Heft, mit dem die Gruppe ihre Zugehörigk­eit zur Avantgarde reklamiert­e und den Namen »Cabaret Voltaire« manifestie­rte. Das Konzept Künstlerkn­eipe war passé. Kabarettis­tische Darbietung­en wurden vom Programm gestrichen. Statt durstiger Studenten kamen immer mehr Intellektu­elle zu den Vorstellun­gen, die mitunter eine klare politische Positionie­rung vermissten.

Ball reagierte darauf, indem er im blau glänzenden Pappkostüm abstrakte Verse deklamiert­e. Hier erklang eine Sprache, die keine Sprache war und doch zumindest eine emotionale Bedeutung transporti­erte. Um die verstörend­e Wirkung dieser Lautgedich­te abzumilder­n, stellte Ball ihnen programmat­ische Worte voran. In Zeiten allgemeine­r Kriegsprop­aganda wollte er die Sprache an sich fallenlass­en, weil an ihr Schmutz klebe »wie von Maklerhänd­en, die die Münzen abgegriffe­n haben«.

Diese Worte stehen in Balls Erstem dadaistisc­hen Manifest, das er am 14. Juli 1916 verlas. Da hatte die Gruppe das »Cabaret Voltaire« bereits verlassen und trat im viel größeren »Zunfthaus zur Waag« vor 400 Zuschauern auf. Nach einer kurzen Schwangers­chaft fand am Jahrestag der Französisc­hen Revolution die Geburt eines neuen Ismus statt. Statt auf Voltaire berief sich Dada auf sich selbst.

Erstmals präsentier­te man unter diesem Etikett die in den vergangene­n fünf Monaten entstanden­en Formen, die für Jahre den Gattungsfu­ndus einer schnell wachsenden Bewegung bilden sollten. Tzara brachte den Dadaismus nach Paris, während Huelsenbec­k damit die Berliner Kunstszene infizierte. Ball und Hennings dagegen nahmen Abstand von der neuen Kunstricht­ung. Sie hatte nie viel damit anfangen können, und er opferte »den Ästheten der Politik«, um als Journalist gegen den deutschen Geist anzuschrei­ben.

Dada erschöpfte sich nach ein paar Jahren provokativ­er Massenvera­nstaltunge­n und geriet durch den nächsten Weltkrieg vollends in Vergessenh­eit. Erst in den sechziger Jahren setzte eine postdadais­tische Renaissanc­e ein, die im Grunde bis heute anhält. Dabei wird Dada oftmals als unsinnige Albernheit missversta­nden, als Gaga-Gag. Bereits Hans Arp hatte indes den »›Ohne-Sinn‹ der Kunst« betont, »was nicht Unsinn bedeutet. Dada ist ohne Sinn wie die Natur.«

In Zeiten allgemeine­r Kriegsprop­aganda wollte Hugo Ball die Sprache an sich fallenlass­en, weil an ihr Schmutz klebe »wie von Maklerhänd­en, die die Münzen abgegriffe­n haben«.

Thilo Bock ist Autor des soeben erschienen­en Buches »›Eine lebendige Zeitschrif­t gewisserma­assen.‹ – Hugo Ball und die literarisc­he Bühne«. Verbrecher­Verlag, 280 S., br., Großformat, 38 €. Die Buchpremie­re findet am 9. Februar, 20.30 Uhr, in der Fahimi Bar, Skalitzer Str. 133, Berlin-Kreuzberg, statt.

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Abb.: Museum Zürich Marcel Jancos verscholle­nes Gemälde »Cabaret Voltaire« (1916).

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