Es gab kein historisches Vakuum
Eine Replik der Fallbetrachtungen von Karsten Krampitz über die DDR im Jahre 1976
Nunmehr liegen die im »neuen deutschland« veröffentlichten Beiträge von Karsten Krampitz über die DDR des Jahres 1976 als Paperback vor. Nur zur Erinnerung: Die »Krise der DDR« wird vor allem mit »Fällen« belegt. Dafür stehen die Schicksale der Schriftsteller Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade, des beim Abbau von Grenzsicherungsanlagen zu Tode gekommenen Michael Gartenschläger, des von Offizieren des MfS aufgesuchten Pfarrers Lothar Vosberg, des offenbar infolge von Missverständnissen an der Grenze erschossenen italienischen Kommunisten Benito Corghi, des sich selbst verbrennenden Oskar Brüsewitz, des ausgebürgerten Wolf Biermann und des Dissidenten Robert Havemann. Auch die Zwischenstücke – IX. Partei der SED, Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, DDR-Sport – werden mehr oder weniger als Fälle behandelt. Sie alle werfen zweifellos ein bezeichnendes Licht auf Verfasstheit und Politik der DDR. Es wäre unaufrichtig, solche Geschehnisse aus dem historischen Gedächtnis zu verdrängen. Allerdings würden andere Staaten und Gesellschaften auch nicht sonderlich gut dastehen, wenn wir ihr Wesen und Wirken anhand vergleichbarer Fälle aufdecken wollten.
Wie kaum eine andere Veröffentlichung hat diese Serie ein widersprüchliches Leserecho gefunden. Von sachkundigen Lesern sind kritische, korrigierende – m. E. meist berechtigte – Einwände vorgetragen worden. Sie heben dennoch die von Krampitz aufgedeckten, gerade im Jahr 1976 konzentriert in Erscheinung getretenen Schattenseiten der DDR nicht auf. Manch Unwille zeugte auch davon, dass unbequeme Wahrheiten nicht gern zur Kenntnis genommen werden.
Allerdings scheint auch der Autor allzu tief nicht in die Gesamtgeschichte der DDR und deren Deutung eingedrungen zu sein. Wenn er in seinem Befund lediglich »Ankläger oder Apologeten des SED-Staats« ausmacht, verkennt er, dass die eigentliche Scheidelinie zwischen etablierten und geförderten, gleichwohl differenziert zu beurteilenden Historikern und Politologen einerseits und von dieser Community ausgegrenzten Wissenschaftlern und Zeitzeugen andererseits verläuft.
Die Idee, das Panorama eines einzigen Jahres der DDR zu entwerfen, eröffnet manche Zugänge und Einsichten, die längsschnittartigen Spezialuntersuchungen nicht zu Gebote stehen. Umso mehr, wenn solch ein flotter Erzählstil, wie er Krampitz gegeben ist, benutzt wird. Aber solch ein Panorama hat seine Grenzen und Gefahren, zudem fehlen im Mosaik wichtige Steine. Die behauptete »multiperspektivische Sichtweise auf die DDR« konnte nicht gelingen, denn dies entsprach den Intentionen des Autors nicht wirklich. Sein Blick richtet sich nicht auf die Gesamtheit der DDR-Gesellschaft, oft nicht einmal auf die Komplexität seiner Fälle.
Um an zwei Beispielen etwas deutlicher zu werden: Wenn im Zusammenhang mit dem IX. Parteitag der SED über das dort angenommene neue Parteiprogramm reflektiert wird und es Krampitz nicht für nötig hält, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, welche Bewertung der Weltsituation dem zu Grunde lag und welcher Gesellschaftsentwurf hier entwickelt wurde, dann ist das gelinde gesagt unseriös, banal. Wenn er die Anerkennung eines friedlichen, parlamentarischen Weges zum Sozialismus unter Beachtung nationaler Besonderheiten für eine neue Einsicht der Eurokommunisten ausgibt, dann sind ihm die Aussagen des XX. Parteitages der KPdSU und die strategische Orientierung von KPD und SED 1945/46 verborgen geblieben.
Schwerer wiegt jedoch die Begrenztheit des Panoramas insgesamt. Noch immer gilt, was Friedrich Engels als wichtige Erkenntnis seines Freundes Karl Marx hervorgehoben hat, nämlich »daß die Menschen vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philoso- phie usw. treiben können«. Doch die Arbeitswelt und die ihr zu Grunde liegenden Produktionsverhältnisse sind Krampitz keiner Betrachtung wert. Haben die herausgegriffenen Fälle die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich so bewegt, dass ihr Verhältnis zur DDR dadurch vorrangig bestimmt wurde?
Damit werden die Grenzen und Gefahren der Geschichtsbeschrei- bung des Typs Krampitz offensichtlich. Zu einem gewissen Maße unvermeidlich tritt uns die DDR als ein im historischen Vakuum existierendes Gebilde gegenüber. Wie es um ihre Handlungsspielräume bestellt war, wird nicht analysiert, welchen internationalen Konstellationen sie unterlag, wird nicht in seiner tatsächlichen Bedeutung ersichtlich. Es wird nicht nach Wurzeln und Ursachen historischen Geschehens, nach Be- weggründen und Erfahrungshorizonten der Akteure gefragt. Vorzüglichstes Anliegen von Geschichtsbetrachtung sollte es aber sein und bleiben, zu untersuchen, wie und warum historische Zustände und Geschehnisse entstanden sind und wie sie sich entwickelt haben, welche Widersprüche auftauchten und welche Lösungswege gefunden oder ausgeschlagen wurden, welche Kräfte und Gegenkräfte sich gegenüberstanden. Schließlich und endlich war die DDR mit den gleichen welthistorischen Herausforderungen konfrontiert wie alle Länder: mit der wissenschaftlichtechnischen Revolution, mit den Gefahren eines globalen Krieges, den Grenzen des Wachstums und Gefährdungen der natürlichen Umwelt, mit den aus Spätfolgen des Kolonialismus erwachsenden Konflikten, demografischen Prozessen und sozialen Problemen. Wenn es Anliegen des Autors war, ehemalige DDR-Bürger zu desillusionieren, so ist diese Wirkung sicher zu einem gewissen Grade eingetreten und – das sei hier ausdrücklich hervorgehoben – für manche Uneinsichtige auch nötig.
Der Staat DDR ist 1990 von der historischen und politischen Bildfläche verschwunden. Ist unsere Welt damit friedlicher, gerechter, sozialer geworden? Ist es nicht an der Zeit, einen Diskurs anzustoßen, in welcher Epoche wir eigentlich leben? In ihr ist selbstverständlich auch der Nachhall der DDR zu spüren. Aber es gibt historische Altlasten, die uns mehr beschäftigen sollten als das Jahr 1976 im deutschen »Arbeiter-undBauern-Staat«. Die historischen Wurzeln der heutigen Misere liegen nicht in erster Linie in der verblichenen DDR. Da stellen sich Fragen nach den in der Geschichte zu suchenden Quellen von Rassismus, Faschismus, Chauvinismus, Nationalismus und Militarismus, nach den Fernwirkungen des Kolonialismus und Kalten Krieges. Da stoßen wir auf die Verantwortung reaktionär-konservativer Kräfte für Irrwege deutscher und internationaler Geschichte. Da wäre endlich auch zu thematisieren, wer dafür zuständig ist, dass die »Wende« von 1989/90 nicht zu einer zukunftsträchtigen europäischen Friedensordnung geführt hat, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, dass sich die politische Achse in Europa empfindlich nach rechts verschoben hat, zu extrem rechten Kräften mit antihumanistischer, antisozialer, völkischer, rassistischer, teils offen nazistischer Orientierung.
Der Staat DDR ist 1990 von der Bildfläche verschwunden. Ist unsere Welt damit friedlicher, gerechter und sozialer geworden?