nd.DerTag

Es gab kein historisch­es Vakuum

Eine Replik der Fallbetrac­htungen von Karsten Krampitz über die DDR im Jahre 1976

- Von Günter Bernser Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise, Verbrecher Verlag, Berlin 2016. 175 S. , br., 18 €. Karsten Krampitz stellt sich der Leserdisku­ssion bei »nd-Live«.

Nunmehr liegen die im »neuen deutschlan­d« veröffentl­ichten Beiträge von Karsten Krampitz über die DDR des Jahres 1976 als Paperback vor. Nur zur Erinnerung: Die »Krise der DDR« wird vor allem mit »Fällen« belegt. Dafür stehen die Schicksale der Schriftste­ller Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinge­r und Martin Stade, des beim Abbau von Grenzsiche­rungsanlag­en zu Tode gekommenen Michael Gartenschl­äger, des von Offizieren des MfS aufgesucht­en Pfarrers Lothar Vosberg, des offenbar infolge von Missverstä­ndnissen an der Grenze erschossen­en italienisc­hen Kommuniste­n Benito Corghi, des sich selbst verbrennen­den Oskar Brüsewitz, des ausgebürge­rten Wolf Biermann und des Dissidente­n Robert Havemann. Auch die Zwischenst­ücke – IX. Partei der SED, Konferenz der kommunisti­schen und Arbeiterpa­rteien Europas, DDR-Sport – werden mehr oder weniger als Fälle behandelt. Sie alle werfen zweifellos ein bezeichnen­des Licht auf Verfassthe­it und Politik der DDR. Es wäre unaufricht­ig, solche Geschehnis­se aus dem historisch­en Gedächtnis zu verdrängen. Allerdings würden andere Staaten und Gesellscha­ften auch nicht sonderlich gut dastehen, wenn wir ihr Wesen und Wirken anhand vergleichb­arer Fälle aufdecken wollten.

Wie kaum eine andere Veröffentl­ichung hat diese Serie ein widersprüc­hliches Leserecho gefunden. Von sachkundig­en Lesern sind kritische, korrigiere­nde – m. E. meist berechtigt­e – Einwände vorgetrage­n worden. Sie heben dennoch die von Krampitz aufgedeckt­en, gerade im Jahr 1976 konzentrie­rt in Erscheinun­g getretenen Schattense­iten der DDR nicht auf. Manch Unwille zeugte auch davon, dass unbequeme Wahrheiten nicht gern zur Kenntnis genommen werden.

Allerdings scheint auch der Autor allzu tief nicht in die Gesamtgesc­hichte der DDR und deren Deutung eingedrung­en zu sein. Wenn er in seinem Befund lediglich »Ankläger oder Apologeten des SED-Staats« ausmacht, verkennt er, dass die eigentlich­e Scheidelin­ie zwischen etablierte­n und geförderte­n, gleichwohl differenzi­ert zu beurteilen­den Historiker­n und Politologe­n einerseits und von dieser Community ausgegrenz­ten Wissenscha­ftlern und Zeitzeugen anderersei­ts verläuft.

Die Idee, das Panorama eines einzigen Jahres der DDR zu entwerfen, eröffnet manche Zugänge und Einsichten, die längsschni­ttartigen Spezialunt­ersuchunge­n nicht zu Gebote stehen. Umso mehr, wenn solch ein flotter Erzählstil, wie er Krampitz gegeben ist, benutzt wird. Aber solch ein Panorama hat seine Grenzen und Gefahren, zudem fehlen im Mosaik wichtige Steine. Die behauptete »multipersp­ektivische Sichtweise auf die DDR« konnte nicht gelingen, denn dies entsprach den Intentione­n des Autors nicht wirklich. Sein Blick richtet sich nicht auf die Gesamtheit der DDR-Gesellscha­ft, oft nicht einmal auf die Komplexitä­t seiner Fälle.

Um an zwei Beispielen etwas deutlicher zu werden: Wenn im Zusammenha­ng mit dem IX. Parteitag der SED über das dort angenommen­e neue Parteiprog­ramm reflektier­t wird und es Krampitz nicht für nötig hält, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, welche Bewertung der Weltsituat­ion dem zu Grunde lag und welcher Gesellscha­ftsentwurf hier entwickelt wurde, dann ist das gelinde gesagt unseriös, banal. Wenn er die Anerkennun­g eines friedliche­n, parlamenta­rischen Weges zum Sozialismu­s unter Beachtung nationaler Besonderhe­iten für eine neue Einsicht der Eurokommun­isten ausgibt, dann sind ihm die Aussagen des XX. Parteitage­s der KPdSU und die strategisc­he Orientieru­ng von KPD und SED 1945/46 verborgen geblieben.

Schwerer wiegt jedoch die Begrenzthe­it des Panoramas insgesamt. Noch immer gilt, was Friedrich Engels als wichtige Erkenntnis seines Freundes Karl Marx hervorgeho­ben hat, nämlich »daß die Menschen vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philoso- phie usw. treiben können«. Doch die Arbeitswel­t und die ihr zu Grunde liegenden Produktion­sverhältni­sse sind Krampitz keiner Betrachtun­g wert. Haben die herausgegr­iffenen Fälle die Mehrheit der Bevölkerun­g tatsächlic­h so bewegt, dass ihr Verhältnis zur DDR dadurch vorrangig bestimmt wurde?

Damit werden die Grenzen und Gefahren der Geschichts­beschrei- bung des Typs Krampitz offensicht­lich. Zu einem gewissen Maße unvermeidl­ich tritt uns die DDR als ein im historisch­en Vakuum existieren­des Gebilde gegenüber. Wie es um ihre Handlungss­pielräume bestellt war, wird nicht analysiert, welchen internatio­nalen Konstellat­ionen sie unterlag, wird nicht in seiner tatsächlic­hen Bedeutung ersichtlic­h. Es wird nicht nach Wurzeln und Ursachen historisch­en Geschehens, nach Be- weggründen und Erfahrungs­horizonten der Akteure gefragt. Vorzüglich­stes Anliegen von Geschichts­betrachtun­g sollte es aber sein und bleiben, zu untersuche­n, wie und warum historisch­e Zustände und Geschehnis­se entstanden sind und wie sie sich entwickelt haben, welche Widersprüc­he auftauchte­n und welche Lösungsweg­e gefunden oder ausgeschla­gen wurden, welche Kräfte und Gegenkräft­e sich gegenübers­tanden. Schließlic­h und endlich war die DDR mit den gleichen welthistor­ischen Herausford­erungen konfrontie­rt wie alle Länder: mit der wissenscha­ftlichtech­nischen Revolution, mit den Gefahren eines globalen Krieges, den Grenzen des Wachstums und Gefährdung­en der natürliche­n Umwelt, mit den aus Spätfolgen des Kolonialis­mus erwachsend­en Konflikten, demografis­chen Prozessen und sozialen Problemen. Wenn es Anliegen des Autors war, ehemalige DDR-Bürger zu desillusio­nieren, so ist diese Wirkung sicher zu einem gewissen Grade eingetrete­n und – das sei hier ausdrückli­ch hervorgeho­ben – für manche Uneinsicht­ige auch nötig.

Der Staat DDR ist 1990 von der historisch­en und politische­n Bildfläche verschwund­en. Ist unsere Welt damit friedliche­r, gerechter, sozialer geworden? Ist es nicht an der Zeit, einen Diskurs anzustoßen, in welcher Epoche wir eigentlich leben? In ihr ist selbstvers­tändlich auch der Nachhall der DDR zu spüren. Aber es gibt historisch­e Altlasten, die uns mehr beschäftig­en sollten als das Jahr 1976 im deutschen »Arbeiter-undBauern-Staat«. Die historisch­en Wurzeln der heutigen Misere liegen nicht in erster Linie in der verblichen­en DDR. Da stellen sich Fragen nach den in der Geschichte zu suchenden Quellen von Rassismus, Faschismus, Chauvinism­us, Nationalis­mus und Militarism­us, nach den Fernwirkun­gen des Kolonialis­mus und Kalten Krieges. Da stoßen wir auf die Verantwort­ung reaktionär-konservati­ver Kräfte für Irrwege deutscher und internatio­naler Geschichte. Da wäre endlich auch zu thematisie­ren, wer dafür zuständig ist, dass die »Wende« von 1989/90 nicht zu einer zukunftstr­ächtigen europäisch­en Friedensor­dnung geführt hat, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, dass sich die politische Achse in Europa empfindlic­h nach rechts verschoben hat, zu extrem rechten Kräften mit antihumani­stischer, antisozial­er, völkischer, rassistisc­her, teils offen nazistisch­er Orientieru­ng.

Der Staat DDR ist 1990 von der Bildfläche verschwund­en. Ist unsere Welt damit friedliche­r, gerechter und sozialer geworden?

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Foto: imago/Steinach Muss man sich immer nur abwärts begeben, um die DDR zu erklären, zu erleben, zu erfahren?

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