»Die größte Gefahr sind inkompetente Politiker«
Igor Gramotkin ist heute der Generaldirektor des AKW in Tschernobyl. Wie blickt er auf die Katastrophe von 1986 zurück?
30 Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl erinnert sich die Ukraine an die Opfer und die Folgen des 26. April 1986. Die Energiepolitik Kiews bleibt aber teilweise verantwortungslos.
»Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß gar nicht, ob wir in der heutigen Ukraine die Atomenergie überhaupt nutzen dürfen«, sagt Igor Gramotkin. Der heutige Generaldirektor des Kernkraftwerks Tschernobyl blickt auf die traurigen Ereignisse von vor 30 Jahren zurück – er gilt als einer der besten Kernenergieexperten Osteuropas. Potenzielle Gefahren der Atomkraft hält Gramotkin keineswegs für eine Angelegenheit aus früheren Zeiten – und er sieht sie in der Politik: »Nicht die Fachkräfte, sondern ahnungslose Leute aus der Partei haben in der Sowjetunion die wichtigsten Entscheidungen getroffen. In der Ukraine ist es nicht sonderlich anders«, sagt der 51-Jährige.
Die Atomenergie spielt in der Ukraine, die mit der Tschernobyl-Katastrophe den bisher schwersten Unfall in einer kerntechnischen Anlage erlebte, immer noch eine Schlüsselrolle. Im Einsatz sind zurzeit vier Kraftwerke, die rund 50 Prozent des gesamten Stroms produzieren, den die Ukraine braucht – ein Atomausstieg ist dort im Moment undenkbar.
»Das Problem an sich ist aber nicht unbedingt dies«, sagt Igor Gramotkin. »Zehn Jahre arbeite ich schon in Tschernobyl als Generaldirektor. Während dieser Zeit habe ich 18 Energieminister erlebt – alle komplett unvorbereitet. Auch 25 Jahre nach der Sowjetunion werden die Entscheidungen von Inkompetenten getroffen.« Deutlicher kann ein Urteil über die verantwortlichen Politiker kaum ausfallen.
Obwohl die Ukraine seit fast drei Jahren in einer tiefen politischen Krise steckt, spielt der 30. Jahrestag des Tschernobyl-Unfalls eine große Rolle für das Land. 2016 wurde von den Verantwortlichen in Kiew zum Jahr des Gedenkens an die Opfer der Atomkatastrophe ausgerufen. Zugleich aber wurden einigen Gruppen von Räumungsarbeitern und anderen von den Folgen Betroffenen die Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen, was zu bemerkbaren Protesten führte. Auf dem Michaelplatz in Kiew werden am Abend des 26. April Kerzen angezündet; gefolgt von einer Schweigeminute. Außerdem soll ein multimediales Projekt »Die Geisterstadt« präsentiert werden – eine virtuelle Führung durch die Städte Pripjat und Tschernobyl.
Und wie geht es nun in der realen Welt weiter? »Das Wichtigste für das Kraftwerk selbst: Wir sind faktisch auf der Zielgeraden, was den Bau der Schutzhülle über dem zerstörten vierten Reaktorblock betrifft«, erklärt Gramotkin. »Dann werden wir alle instabilen Konstruktionen demontieren.« Sowohl der Generaldirektor als auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der genau vor einem Jahr Tschernobyl besuchte, rechnen beim Bau der Schutzhülle mit internationaler Hilfe. »In diesen schwierigen Zeiten für die Ukraine ist die Hilfe anderer Länder bei den Fragen rund um Tschernobyl sehr wichtig«, sagt Poroschenko. »Kein Land der Erde schafft das alleine«, fügt Gramotkin hinzu.
Die Sperrzone von Tschernobyl, die 1986 30 Kilometer rund um den vierten Block eingerichtet wurde, soll künftig kleiner werden. Das ukrainische Umweltschutzministerium spricht von einem neuen Radius von zehn Kilometern – die Strahlensituation in der Zone habe sich rasant verbessert. Eine Entscheidung soll bis zum 1. Juli getroffen werden. Und die ukrainische Regierung will auch ausländische Investoren für den anstehenden Wiederaufbau der Orte innerhalb der Sperrzone locken.
Der Tschernobyl-Jahrestag sorgt auch für viele geschichtliche und politische Diskussionen, die sich meistens um die sowjetische Vergangenheit drehen. »Die Ereignisse von Tschernobyl waren ganz klar der Countdown zum Zerfall der Sowjetunion«, sagt Wolodymyr Wjatrowytsch, Direktor des Instituts des Nationalgedenkens in Kiew. Die bekannte Schriftstellerin Oksana Sabuschko sieht das ähnlich: »Im Mai 1986 wurde das sowjetische Kiew durch die Strahlung getötet. Und im Mai wurde das neue Kiew geboren, die Hauptstadt der modernen Ukraine.«
Igor Gramotkin sieht – anders als Wjytrowytsch und Sabuschko – gerade in Tschernobyl das Potenzial, die derzeit so schwer belasteten Beziehungen zwischen Moskau und Kiew zu verbessern. »Unsere Länder erleben nicht die leichtesten Zeiten. Aber vor allem im Energiebereich müssen wir darüber nachdenken, wie wir weiter zusammenarbeiten werden. Die Erneuerung der Beziehungen könnte rund um das große gemeinsame TschernobylProblem erfolgen – warum eigentlich nicht?« In einem solchen Fall, das betont Gramotkin, müssten allerdings sowohl die Ukraine als auch Russland in Fragen der Energiesicherheit noch deutlich nachlegen.