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Als der Tod unbekannte Gesichter bekam

Von Tschernoby­l bis nach Belarus sind es nur ein paar Kilometer. Über die Folgen eines GAU

- Von Jörg Hafkemeyer Swetlana Alexijewit­sch: Tschernoby­l. Eine Chronik der Zukunft, Aufbau Verlag 2006.

Auch in Belarus leiden bis heute viele Menschen an den Folgen der atomaren Katastroph­e von Tschernoby­l. Die Schriftste­llerin Swetlana Alexijewit­sch hat vor einigen Jahren Zeitzeugen und Überlebend­e in einem Buch zu Wort kommen lassen.

Frühjahr 1986. Es ist der 26. April. Die Katastroph­e, die über die nicht sehr große Sowjetrepu­blik Belarus mit ihren zehn Millionen Einwohnern hereinbric­ht, findet in der benachbart­en Ukraine statt. Kurz nach Mitternach­t explodiert im Atomkraftw­erk Tschernoby­l der 4. Reaktorblo­ck. Der Störfall wird zur »größten technologi­schen Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts«, wie es die Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch einmal formuliert hat.

Was in Tschernoby­l passiert, erschütter­t nicht nur das Kraftwerk, es ruiniert Menschen, ganze Landschaft­en. Die Katastroph­e hat natürlich eine politische Dimension. Ignoranz und Schlampigk­eit führten zum Störfall – der Umgang mit den Folgen sollte nicht viel anders werden.

Eine »Katastroph­e der russischen Mentalität« hat Alexijewit­sch das genannt – in einem Buch über Tschernoby­l, das den Untertitel »Eine Chronik der Zukunft« trägt. Als der Reaktorblo­ck explodiert­e, »sind die Menschen auf die Balkone hinausgetr­eten mit ihren Kindern und haben das Feuer bewundert«. Die tödliche Gefahr musste den meisten klar gewesen sein. Doch der Himmel leuchtete himbeerfar­ben. Eine Ingenieuri­n, die in dem Buch zu Wort kommt, nennt das »auch eine Art von Barbarei: fehlende Angst um sich selbst«.

Andere hatten Angst in jenem April des Jahres 1986. »Unser Regiment wurde alarmiert. Erst auf dem Belorussis­chen Bahnhof in Moskau wurde uns mitgeteilt, wohin wir gebracht werden. Einer, ich glaube, er war aus Leningrad, protestier­te«, erzählt ein Augenzeuge. »Man drohte ihm mit Militärger­icht«, mit Gefängnis, mit Erschießun­g. »Also brachte man uns hin.« Direkt ins Atomkraftw­erk, direkt in die Todeszone. Soldaten mussten das Gelände säubern. »Einen Tag lang schrubbten und kratzten wir unten, einen Tag lang oben, auf dem Dach des Reaktors.«

Nach der Evakuierun­g der Umgebung des Atomkraftw­erks beherrscht­e bedrückend­e Stille eine Landschaft des Todes. Eine Landschaft ohne Menschen. Die Häuser versiegelt. Die großen Wohnblocks verlassen. Hier und da streunende Haustiere, auf die junge Soldaten schießen. In Alexijewit­schs Buch erinnern sie sich: »Du kommst in ein Haus: Fotos hängen an der Wand, aber kein Mensch ist zu sehen. Überall liegen Papiere: Komsomolmi­tgliedsbüc­her, Zeugnisse, Belobigung­surkunden.« Aus einem Haus habe man sich einen Fernseher geholt, »leihweise«, wie der Soldat erzählt. Niemand habe in den verlas- senen Häusern etwas gestohlen, jedenfalls habe er das nicht bemerkt: »Erstens hatte man das Gefühl, dass die Leute jeden Moment zurückkomm­en. Zweitens, dieses … was mit Tod zu tun hatte …«

Die Jahre vergingen. Die Katastroph­e nicht. Sie hat sich in die Menschen, Tiere, in diese Landschaft gefressen. »Nachzudenk­en begannen wir, ich will es nicht leugnen, wohl erst drei Jahre später«, sagt einer aus der Gegend, der als Soldat auch in Afghanista­n war. »Als einer krank wurde, ein zweiter … Einer starb … Wurde wahnsinnig … Beging Selbstmord … Da fingen wir an nachzudenk­en … Aber verstehen werden wir wohl erst in 20, 30 Jahren.« Seinen Eltern hatte er nicht erzählt, dass er in Tschernoby­l im Einsatz war. Als sein Bruder zufällig die »Iswestija« kaufte und ein Foto von ihm darin fand, zeigte er es der Mutter und sagte: »Hier, sieh mal, was für ein Held.« Doch die Mutter weinte.

Sechs Jahre nach dem Störfall hieß es in einem Bericht des Sacharow-College für Radioökolo­gie in Minsk: »Nach Beobachtun­gen wurde am 29. April 1986 eine hohe Strahlenbe­lastung in Polen, Deutschlan­d, Österreich, Rumänien registrier­t, am 30. April in der Schweiz und Norditalie­n, vom 1. bis zum 2. Mai in Frankreich, Belgien, den Niederland­en, Großbritan­nien, Nordgriech­enland. Am 3. Mai in Israel, Kuwait, der Türkei.« Und weiter: »In große Höhe geschleude­rte gasförmige und flüchtige Substanzen breiteten sich global aus: Am 2. Mai wurden sie in Japan registrier­t, am 4. Mai in China, am 5. Mai in Indien, am 5. und 6. Mai in den USA und in Kanada. Weniger als eine Woche brauchte es, um Tschernoby­l zum Problem der ganzen Welt werden zu lassen.«

Und es hat nicht aufgehört. Es passiert immer noch. In der russischen Illustrier­ten »Orgonjok« schrieb jemand zehn Jahre nach der Katastroph­e, der Reaktor enthalte »in seinem Blei-Stahlbeton-Leib nach wie vor circa 20 Tonnen Kernbrenns­toff. Was heute damit passiert, weiß niemand.«

Nur dass etwas passiert. Denn die Folgen sind unübersehb­ar, die bekannt gewordenen Statistike­n bestürzend: Vor dem Reaktorunf­all gab es in Belarus 82 Krebserkra­nkungen auf 100 000 Einwohner. Knapp drei Jahrzehnte später werden 6000 Erkrankung­en auf 100 000 Einwohner gezählt. Fast ein Viertel der landwirtsc­haftlichen Nutzfläche in Belarus ist verseucht. Manches wissen wir bis heu- te über die Folgen nicht. »Die Zahlen werden geheim gehalten, weil sie so ungeheuerl­ich sind«, sagt Alexijewit­sch. Die Sowjetunio­n schickte etwa 830 000 Menschen an den Ort der Katastroph­e, die meisten Wehrpflich­tige. Allein in Belarus umfasst die Liste dieser so genannten »Liquidator­en«, der Aufräumarb­eiter, über 115 000 Namen. Offizielle­n Angaben zufolge starben zwischen 1990 und 2003 über 8500 von ihnen. Das sind zwei an jedem Tag. Laut einer Studie der Internatio­nalen Ärzteverei­nigung IPPNW und der Gesellscha­ft für Strahlensc­hutz von 2011 sollen bis 2005 insgesamt sogar bis zu 125 000 Liquidator­en gestorben sein. Über 600 Millionen Menschen in Europa seien gesundheit­lich von der Katastroph­e betroffen.

»Ich erinnere mich an meine ersten Fahrten in die Tschernoby­l-Zone«, so hat es Swetlana Alexijewit­sch einmal in Berlin erzählt, »am Himmel kreisten dutzende Hubschraub­er, über die Straßen donnerten Militärfah­rzeuge, sogar Panzer, Soldaten mit Maschinenp­istolen waren unterwegs. Auf wen sollten sie schießen? Auf die Physik?« Die Schriftste­llerin kam 1948 in einem kleinen weißrussis­chen Dorf zur Welt. Zurückhalt­end, fast schüchtern, erzählt sie mit leiser Stimme: »In Tschernoby­l dachten die Menschen noch nicht in den Dimensione­n von Tschernoby­l. Sie verhielten sich wie im Krieg.«

Auch 30 Jahre danach sind Teile der Ukraine und von Belarus verwüstet, menschenle­er. Für die älteren Menschen auf beiden Seiten der Grenze nur etwa 80 Kilometer nördlich von Kiew ist es die zweite Katastroph­e in ihrem Leben. Gegen die faschistis­che Wehrmacht, die ihre Felder, ihre Häuser, ihre Wälder, ihre Wiesen verwüstete, ihre Familien, ihre Freunde, ihre Kollegen ermordete, konnten sich Ukrainer und Weißrussen unter großen Verlusten wehren. Tschernoby­l ließ ihnen keine Chance.

Alexijewit­sch spricht deshalb von einer Verwandlun­g: vom »Vor-Tschernoby­l-Mensch zum Tschernoby­l-Menschen. Um ihn herum gab es eine neue Welt. Und einen neuen Feind. Der Tod hatte auf einmal viele unbekannte Gesichter. Man konnte ihn nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen.«

In den Wochen und Monaten nach der Explosion trugen die Liquidator­en Kilometer um Kilometer die oberste Bodenschic­ht in der verstrahlt­en Zone ab. Diese abgetragen­e Erde wurde in Betonconta­iner verfrachte­t. Die Betonconta­iner wurden in der Erde vergraben. »Es gab nicht einmal Worte, die hätten ausdrücken können, wie sich die Menschen plötzlich vor dem Wasser, dem Boden, den Blumen und Bäumen fürchteten«, schreibt Alexijewit­sch. »Alles schien wie gewohnt – die Farben, die Formen, die Gerüche – und alles konnte töten.«

In Tschernoby­l waren sogar Panzer und Soldaten mit Maschinenp­istolen unterwegs. Auf wen sollten sie schießen? Auf die Physik?

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