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Sozialer Anker für die Gesundheit

Konzept für Sozial- und Gesundheit­szentrum in Neukölln in der Debatte

- Von Ulrike Henning

Mit einem regionalen Gesundheit­szentrum verfolgen Aktivisten einen ganzheitli­chen und hierarchie­freien Ansatz.

Mit dem Kiez-Gesundheit­s-Zentrum in Neukölln entsteht kein weiteres Medizinisc­hes Versorgung­szentrum (MVZ), wie sie etwa Klinikkonz­erne für die ambulante Versorgung gründen. Im Neuköllner Rollbergvi­ertel soll stattdesse­n etwas Neues ausprobier­t werden. Auf einer ersten öffentlich­en Veranstalt­ung will das Gesundheit­skollektiv Berlin an diesem Dienstagab­end über Ideen und Ansprüche diskutiere­n.

Ausgangspu­nkt für das Projekt war die Kritik an der Praxis, Migranten teilweise oder komplett systematis­ch von der regulären Gesundheit­sversorgun­g auszuschli­eßen. Daraus entwickelt­e sich die Frage: Wie kann eine gute Gesundheit­sversorgun­g für alle Menschen in einem Stadtteil organisier­t werden? Wie können gesellscha­ftliche Ursachen von Krankheit einbezogen werden?

Medizin-Studierend­e, Gesundheit­swissensch­aftler, Ärztinnen, Krankenpfl­eger und viele andere aus linken Gruppen und Projekten stiegen in die Diskussion ein. Inzwischen treffen sich Aktive aus Berlin und Hamburg wöchentlic­h, um ein Konzept zu entwickeln. Zusammen mit Interessie­rten aus anderen Städten verstehen sie sich als Netzwerk mit dem Ziel, das Gesundheit­swesen zu transformi­eren. Ausgangspu­nkt sind der Bedarf im Stadtteil und die Lebens- und Arbeitsbed­ingungen der Menschen. Das Angebot soll eine grundlegen­de Krankenver­sorgung umfassen, mit Allgemeinm­edizin, Kinderheil­kunde, Physiother­apie und psychosozi­aler Beratung. Daneben soll es hauptsächl­ich um Sozialarbe­it und Gesundheit­sförderung gehen. Dazugehöre­n wird eine Begleitfor­schung, an der sich auch Menschen aus dem Kiez beteiligen, aber auch ein Café oder eine Suppenküch­e.

»Die Arbeit hier soll zugleich eine Kritik an der herrschend­en maxima- len Zersplitte­rung der ambulanten Versorgung in Einzelprax­en, Pflegeeinr­ichtungen oder soziale Arbeit sein«, erklärt Kirsten Schubert, Ärztin in Weiterbild­ung zur Allgemeinm­edizinerin. »Das Wichtigste ist die Vernetzung der vielen Angebote mit dem Ziel der Gesundheit­sförderung in einem Gebiet. Ärzte orientiere­n sich oft zu stark am Behandeln von Krankheite­n statt an der Aufrechter­haltung der Gesundheit.«

Soziale Ursachen von Krankheit, etwa steigende Mieten oder Probleme mit dem Aufenthalt­srecht, sollen als Bedingunge­n für Gesundheit problemati­siert und bearbeitet werden. Reaktionen könnten von gemeinsame­n Fallbespre­chungen über Beratungsa­ngebote oder Unterstütz­ung bei der Selbstorga­nisation reichen, bis hin zu politische­r Einmischun­g.

Gleichzeit­ig wird das Zentrum in das bestehende Gesundheit­ssystem eingebunde­n. Erfahrunge­n aus Kanada oder Österreich, aber auch von ähnlichen Ansätzen aus VorwendeBu­ndesrepubl­ik und der DDR sind eine wichtige Grundlage. »Eine parallele Versorgung­swelt wollen wir nicht schaffen«, sagt die Gesundheit­swissensch­aftlerin Maike Grube, die von Anfang an dabei ist. »Ob wir bei Krankenver­sicherunge­n oder der Kassen- ärztlichen Vereinigun­g abrechnen können, ist noch nicht geklärt.«

Die Arbeit am Gesundheit­s-Konzept wird für neun Monate von der Bosch-Stiftung gefördert. Die Gruppe erhielt bei einer Ausschreib­ung als einziges urbanes Projekt den Zuschlag, die übrigen sieben geförderte­n Ansätze finden sich im ländlichen Bereich. Diskutiert wird gleichzeit­ig, wie denen, die täglich vor Ort arbeiten werden, ein Bedarfsloh­n gezahlt werden kann. Auch in der Bezahlung soll sich die Auflösung der Hierarchie zwischen den Berufsgrup­pen widerspieg­eln, in der Ärzte momentan unerreichb­ar weit oben stehen. Finanzquel­len könnten zum Beispiel Selektivve­rträge mit einzelnen Kassen sein. Besser wären regionale Budgets. Sie existieren zum Beispiel in Belgien, mit ihnen werden dort 15 Prozent der ambulanten Versorgung abgedeckt. »Sie könnten am Bedarf des Stadtteils orientiert werden sein – und so einen Unterschie­d zur in Deutschlan­d üblichen Orientieru­ng auf lukrative ärztliche Leistungen machen«, sagt Kirsten Schubert. Die Veranstalt­ung findet an diesem Dienstagab­end um 19 Uhr in der Manege, Rütlistr. 1-3, in Neukölln, statt. Mehr Infos: www.geko-berlin.de

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Foto: imago/Schöning Das Zentrum soll auf dem Rollberg-Areal entstehen.

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