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Auch das Gewohnheit­srecht zählt

Zu »NATO-Russland-Rat wird reaktivier­t«, 9./10.4., S. 1

- Erich Eickenroth, Mittenwald­e

Das wird aber auch Zeit. Die Ankündigun­g, eine ganze Panzerbrig­ade Richtung russischer Grenze zu verlegen, um »Sorgen« von NATO-Partnern zu begegnen, kann nur zu erhöhten Spannungen mit Russland führen. NATO-Generalsek­retär Stoltenber­g sagt: »Wir wollen uns über militärisc­he Aktivitäte­n beraten, unter besonderer Berücksich­tigung von Transparen­z und Gefahrenmi­nimierung.«

Warum ist diese Art von Gesprächen nicht vor der Ankündigun­g zur Verlegung der Panzerbrig­ade erfolgt? Sehr aufschluss­reich die Worte Stoltenber­gs: »Eine Rückkehr zur Normalität wird es nicht geben, solange Russland nicht das Völkerrech­t respektier­t.« Damit ist die Annexion der Krim durch Russland gemeint. Der Hinweis auf das Völkerrech­t ist korrekt. Nicht korrekt ist das Verschweig­en (der westlich gefärbten Medien) dass das Völkerrech­t unterschie­dlich ausgelegt werden kann. Der entscheide­nde Punkt, der aus russischer Sicht die Annexion der Krim ermöglicht­e, ist das Wiener Übereinkom­men vom 23. Mai 1969. In diesem Übereinkom­men ist ausdrückli­ch festgeschr­ieben, dass Völkerrech­t durch Gewohnheit­srecht überlagert werden kann. Die Krim wurde 1783 durch Katharina II. von Russland annektiert, war also über 200 Jahre russisches Territoriu­m.

Aus diesem Fakt leitet sich logisch ein Gewohnheit­srecht ab. Dieses Wiener Übereinkom­men zu Vertragsre­chten ist auch heute noch aktuell (Russland ist Vertragsmi­tglied). Mit Stand vom 1. Januar 2015 sind 114 Staaten dem Vertrag beigetrete­n. Nicht beigetrete­n sind die USA und Frankreich! Wundern wir uns also nicht, wenn diese »andere« – nicht durch Verträge gebundene – Ansichten zur Auslegung des Völkerrech­ts haben. Aber Russland, dass als Vertragsun­terzeichne­r des Wiener Übereinkom­mens ausdrückli­ch das Recht hat, das Völkerrech­t durch ein Gewohnheit­srecht überlagert zu sehen, darf dieses Recht nicht in seinem Sinn »auslegen«?

Erinnern wir uns: Mit dem Ende der Sowjetunio­n wurde auch das Riesenreic­h neu aufgeteilt. Es entstanden die neuen, unabhängig­en Staaten. Das Ende der SU bedeutete aber auch das Ende von Verträgen und Vereinbaru­ngen. Das gilt für alle neuen Staaten der ehemaligen Sowjetunio­n. Nur nicht für die Ukraine? Die die Krim erst 1954 durch den Rat der Sowjetrepu­bliken »zugeteilt« bekam?

Und wir müssen uns erinnern, in welcher Hochspannu­ng sich Putin befand, da sich immer deutlicher abzeichnet­e, dass die Ukraine so schnell wie möglich »westlich«werden wollte – mit der Konsequenz, auch NATOMitgli­ed zu werden und letztendli­ch einen NATO-Flottenstü­tzpunkt auf der Krim zu errichten! Wo – so frage ich die »westlichen Medien« – stünden wir heute, wenn dieses Szenario Wirklichke­it geworden wäre? Am Rande eines Krieges zwischen NATO und Russland? Oder längst mittendrin?

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