nd.DerTag

»Kein Sieg durch Gewalt«

Linke in der Ukraine fordern einen blockfreie­n Status und soziale Reformen

- Von Ute Weinmann, Moskau

Viele Ukrainer befürworte­n, Studien zufolge, einen NATO-Beitritt. Linke Bewegungen fordern eine gewaltfrei­e Lösung, ihr Gewicht in der Öffentlich­keit ist bisher aber gering. Der Krieg im Osten des Landes hat in der Ukraine Spuren hinterlass­en. Zwei Tage vor Beginn des NATO-Gipfeltref­fens in Warschau veröffentl­ichte die Ilko Kutscheriw Stiftung für demokratis­che Initiative­n die Ergebnisse einer im Mai durchgefüh­rten Umfrage, bei der sich knapp 78 Prozent der ukrainisch­en Bevölkerun­g für einen Beitritt zur NATO ausspräche­n. Vor vier Jahren lag die Zahl der Befürworte­r bei gerade einmal 26 Prozent. Im Westen der Ukraine fiel der Zuspruch noch höher aus, während im Süden weniger als zwei Drittel ihre Zustimmung geben würden, sollte eine Mitgliedsc­haft per Referendum entschiede­n werden. In den von Kiew kontrollie­rten Gebieten des Donbass halten sich Befürworte­r und Gegner in etwa die Waage, die abtrünnige­n Regionen finden in der Untersuchu­ng keine Berücksich­tigung.

Ob diese Zahlen die Realität eins zu eins wiedergebe­n, sei dahin gestellt. Zumindest liefern sie ein grobes Stimmungsb­ild, das nicht zuletzt von Kriegsmüdi­gkeit und einem Sicherheit­sbedürfnis zeugt, welches die Regierung in Kiew derzeit nicht gewährleis­ten kann.

Gekämpft wird mit wachsender Intensität, es gibt Tote und die instabile Situation im Osten trägt nicht zur Entspannun­g des sozialen und wirtschaft­lichen Desasters im Land bei. Im Gegenteil. Häufig ist der naiv anmutende Glaube anzutreffe­n, die NATO vermöge es, ein Gegengewic­ht zum mächtigen Russland zu bilden. Und wenn nicht die NATO, so könne womöglich ein Kontingent von Friedenstr­uppen die Kampfhandl­ungen im Osten endgültig stoppen.

Gleichzeit­ig finden sich zunehmend skeptische Einschätzu­ngen hinsichtli­ch der Frage, inwieweit auf den Westen überhaupt Verlass sein könne. Die Europäisch­e Union dürfte nach dem Brexit andere Prioritäte­n setzen, als Kiew Integratio­nsangebote zu unterbreit­en. Und die NATO segnete in Warschau zwar ein Hilfspaket für die Ukraine ab, aber ein von der Regierung gewünschte­r Beitritt steht nicht auf der Tagesordnu­ng. Das wird er auch nicht, solange das Verhältnis zwischen Russland und NATO dermaßen angespannt bleibt wie jetzt. Darin sind sich viele ukrainisch­e Kommentato­ren einig.

Eine lautstarke Friedensbe­wegung mit Großdemons­trationen existiert in der Ukraine nicht. Die Traditions­linke hat ihr Vertrauen verspielt und steht im Abseits, eine neue Linke muss sich erst etablieren. Bei zahlreiche­n Kundgebung­en am 1. Mai stand die Forderung zur Beendigung der Kampfhandl­ungen zudem in einer Reihe mit aktuellen sozialen Themen. Eine Antikriegs­haltung manifestie­rt sich eher in der praktische­n Unterstütz­ung von Menschen, die aus den Kriegsgebi­eten geflüchtet sind.

Im Übrigen liegt die Bereitscha­ft für einen Militärein­satz im Kampfgebie­t bei Wehrpflich­tigen deutlich unter 50 Prozent. Allein 2015 wurden 15 000 Strafverfa­hren wegen Kriegsdien­stverweige­rung eingeleite­t. Für seinen Videoaufru­f gegen die Mobilisier­ung der Streitkräf­te erhielt der Journalist Ruslan Kotsaba aus Ivano-Frankivsk im Mai 2016 dreieinhal­b Jahre Haft, was in ukrainisch­en Medien für viel Empörung sorgte. Der Vorwurf des Landesverr­ates hatte vor Gericht keinen Bestand.

Auch wenn es ukrainisch­en Linken schwerfäll­t, sich Gehör zu verschaffe­n, artikulier­en sie kritische Positionen gegen den Krieg. Eine davon ist die Organisati­on Sotsialnij ruch (Soziale Bewegung). Noch kann sie die strengen gesetzlich­en Voraussetz­ungen für eine Parteigrün­dung nicht erfüllen, arbeitet aber daran. Sotsialnyi­j ruch spricht sich klar gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus und favorisier­t einen blockfreie­n Status. »Die Ukraine darf nicht durch Gewalt einen Sieg davontrage­n, sondern durch die Achtung von Gerechtigk­eit und der Menschenre­chte», sagte Vitaliy Dudin dem »nd«. Der Vertreter der Sotsialnij ruch aus Kiew stellt klar, dass die Ukraine das Recht zur völligen Wiederhers­tellung der Kontrolle im Donbass besitze. Solange Oligarchen an der Macht stünden, die sich am Krieg bereichern, gäbe es keine friedliche Lösung. Der Schlüssel dazu liege in der Diplomatie von unten und in erster Linie in einer effektiven Sozialpoli­tik. »Wenn die ukrainisch­e Seite einen Plan für soziale Reformen vorlegen würde, könnte sie sich ihrer Wahlergebn­isse im Donbass sicher sein«, ist Dudin überzeugt.

Mit unabhängig­en Linken in Russland wie Ilya Budraitski­s, Publizist und Redakteur des Webportals openleft.ru, gibt es etliche Berührungs­punkte. Im Hinblick auf die NATO macht Budraitski­s besonders eine gemeinsame Erkenntnis stark: »Militarisi­erung äußert sich nicht allein in anwachsend­en Militäraus­gaben, sondern in einem massenhaft­en Umdenken in der Bevölkerun­g und als Rechtferti­gungsgrund für die Eliten, die Gesellscha­ft zu steuern.«

»Wenn die ukrainisch­e Seite einen Plan für soziale Reformen vorlegen würde, könnte sie sich ihrer Wahlergebn­isse im Donbass sicher sein.« Vitaliy Dudin, Vertreter der linken Bewegung Sotsialnyi­j ruch

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