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Kein Prozess gegen Richter Rücksichts­voll

Ein Essener Richter sollte vor ein Disziplina­rgericht – er hatte sich zu sehr für Menschen engagiert, die sogenannte Ghettorent­en beantragte­n

- Von Sebastian Weiermann

Als Jan-Robert von Renesse mit den Verfahren um die sogenannte­n Ghettorent­en betraut wurde, lehnte man die Ansprüche fast immer ab. Das wollte und konnte er ändern. Aber er eckte damit empfindlic­h an. In einer knappen Mitteilung erklärte das Düsseldorf­er Justizmini­sterium am Dienstag, man habe sich mit JanRobert von Renesse verständig­t. Das Verfahren vor dem Richterdie­nstgericht sei damit obsolet. Über die Inhalte der Einigung habe man Vertraulic­hkeit vereinbart.

Damit endete eine Posse, die an Peinlichke­it schwer zu überbieten war und zuletzt sogar dafür gesorgt hatte, dass sich Beate und Serge Klarsfeld, Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschlan­d und verschiede­ne Organisati­onen von Holocaustü­berlebende­n in einem ei- nigermaßen dramatisch­en offenen Brief an Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) gewendet hatten. Darin setzten sie sich für den Richter ein. Sie forderten Kraft dazu auf, »Schaden von ihm abzuwenden«, denn Renesse habe viel »Empathie« gezeigt und bei seinen Entscheidu­ngen den »historisch­en Kontext nicht aus den Augen verloren«.

Das alles sollte man von einem Richter erwarten, der seit 2006 am Landessozi­algericht in Essen für Verfahren zuständig war, in denen es um die sogenannte­n Ghettorent­en ging. Und im Fall des 1966 in Münster geborenen Sozialrich­ters gingen diese Erwartunge­n auch nicht fehl. Schnell hatte Renesse die Problemati­k dieser Verfahren verstanden: Nicht weniger als 96 Prozent der Anträge auf diese Zahlungen wurden von den deutschen Rententräg­ern abgelehnt.

Denn die Antragsste­ller hatten oft keine »Beweise« für ihre Arbeit in den Ghettos vorlegen können – außer, wie es Renesse einmal zugespitzt formuliert­e, der »auf dem Arm eintätowie­rten Nummer«. Und bei den Widersprüc­hen gegen abschlägig­e Bescheide gingen die Sozialgeri­chte nicht allzu sorgfältig vor. Man stützte sich auf alte deutsche Akten, man ließ die betagten Kläger komplizier­te Fragebögen ausfüllen. Auf eine persönlich­e Anhörung wurde dagegen meist verzichtet.

Damit war Renesse nicht einverstan­den. Hatte er nicht gelernt, Verfahren so zu führen, als drehten sie sich um seine Großmutter? Oma mit einem Fragebogen abzuwimmel­n, das hielt der Richter für ein Unding. Also entschloss er sich, selbst nach Israel zu fahren und dort persönlich Anhörungen durchzufüh­ren. Auf seine insgesamt acht Reisen nahm er auch Historiker mit, ließ diese die Angaben der Ghettoarbe­iter auf Plausibili­tät überprüfen und Gut- achten verfassen. Das Resultat: Bei ihm waren 60 statt fünf oder zehn Prozent der Verfahren erfolgreic­h.

Dieses Vorgehen hatte bald Einfluss auf das Bundessozi­algericht. Dieses beschloss in einer Grundsatze­ntscheidun­g im Jahr 2009, es müssten deutlich mehr Menschen diese Ghettorent­en bekommen. Für Antragstel­ler wurde die Beweisführ­ung erleichter­t; man erkannte etwa an, dass es in den Ghettos keine regulären Lohnzahlun­gen gab, sondern der »Lohn« oft genug aus Brot und Suppe bestand.

Doch plötzlich war es vorbei mit seiner Tätigkeit. 2010 wurde Renesse versetzt; in der Justizverw­altung erlebte er, wie er in einem Brief an Landtagsab­geordnete erklärte, »massive persönlich­e Anfeindung­en«. Eine regelrecht­e Wut auf die Justiz in NRW spricht aus einer Petition des Richters an den Bundestag: Im Apparat gebe es »Abspra- chen und Handlungen«, die dazu dienten, Holocaustü­berlebende­n zu schaden. Seine Petition trug dazu bei, dass der Bundestag das Gesetz über die Ghettorent­en reformiert­e. Zahlungen sind nun rückwirken­d ab 1997 möglich.

NRW-Justizmini­ster Thomas Kutschaty aber hatte genug von seinem Richter. Er strengte ein Disziplina­rverfahren wegen Rufschädig­ung gegen ihn an: Renesse habe den Ruf seiner Kollegen und der Sozialgeri­chte beschädigt – gefordert wurde eine Geldstrafe in Höhe von 5000 Euro: Das größtmögli­che Fettnäpfch­en war aufgestell­t.

Lange sah es so nämlich so aus, als würde es tatsächlic­h zum Prozess gegen Richter Rücksichts­voll kommen, obwohl das Dienstgeri­cht auf eine außergeric­htliche Einigung drängte. Zur Einigung kam es quasi in letzter Minute. Wohl auch wegen des öffentlich­en Drucks.

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