Kein Prozess gegen Richter Rücksichtsvoll
Ein Essener Richter sollte vor ein Disziplinargericht – er hatte sich zu sehr für Menschen engagiert, die sogenannte Ghettorenten beantragten
Als Jan-Robert von Renesse mit den Verfahren um die sogenannten Ghettorenten betraut wurde, lehnte man die Ansprüche fast immer ab. Das wollte und konnte er ändern. Aber er eckte damit empfindlich an. In einer knappen Mitteilung erklärte das Düsseldorfer Justizministerium am Dienstag, man habe sich mit JanRobert von Renesse verständigt. Das Verfahren vor dem Richterdienstgericht sei damit obsolet. Über die Inhalte der Einigung habe man Vertraulichkeit vereinbart.
Damit endete eine Posse, die an Peinlichkeit schwer zu überbieten war und zuletzt sogar dafür gesorgt hatte, dass sich Beate und Serge Klarsfeld, Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland und verschiedene Organisationen von Holocaustüberlebenden in einem ei- nigermaßen dramatischen offenen Brief an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) gewendet hatten. Darin setzten sie sich für den Richter ein. Sie forderten Kraft dazu auf, »Schaden von ihm abzuwenden«, denn Renesse habe viel »Empathie« gezeigt und bei seinen Entscheidungen den »historischen Kontext nicht aus den Augen verloren«.
Das alles sollte man von einem Richter erwarten, der seit 2006 am Landessozialgericht in Essen für Verfahren zuständig war, in denen es um die sogenannten Ghettorenten ging. Und im Fall des 1966 in Münster geborenen Sozialrichters gingen diese Erwartungen auch nicht fehl. Schnell hatte Renesse die Problematik dieser Verfahren verstanden: Nicht weniger als 96 Prozent der Anträge auf diese Zahlungen wurden von den deutschen Rententrägern abgelehnt.
Denn die Antragssteller hatten oft keine »Beweise« für ihre Arbeit in den Ghettos vorlegen können – außer, wie es Renesse einmal zugespitzt formulierte, der »auf dem Arm eintätowierten Nummer«. Und bei den Widersprüchen gegen abschlägige Bescheide gingen die Sozialgerichte nicht allzu sorgfältig vor. Man stützte sich auf alte deutsche Akten, man ließ die betagten Kläger komplizierte Fragebögen ausfüllen. Auf eine persönliche Anhörung wurde dagegen meist verzichtet.
Damit war Renesse nicht einverstanden. Hatte er nicht gelernt, Verfahren so zu führen, als drehten sie sich um seine Großmutter? Oma mit einem Fragebogen abzuwimmeln, das hielt der Richter für ein Unding. Also entschloss er sich, selbst nach Israel zu fahren und dort persönlich Anhörungen durchzuführen. Auf seine insgesamt acht Reisen nahm er auch Historiker mit, ließ diese die Angaben der Ghettoarbeiter auf Plausibilität überprüfen und Gut- achten verfassen. Das Resultat: Bei ihm waren 60 statt fünf oder zehn Prozent der Verfahren erfolgreich.
Dieses Vorgehen hatte bald Einfluss auf das Bundessozialgericht. Dieses beschloss in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 2009, es müssten deutlich mehr Menschen diese Ghettorenten bekommen. Für Antragsteller wurde die Beweisführung erleichtert; man erkannte etwa an, dass es in den Ghettos keine regulären Lohnzahlungen gab, sondern der »Lohn« oft genug aus Brot und Suppe bestand.
Doch plötzlich war es vorbei mit seiner Tätigkeit. 2010 wurde Renesse versetzt; in der Justizverwaltung erlebte er, wie er in einem Brief an Landtagsabgeordnete erklärte, »massive persönliche Anfeindungen«. Eine regelrechte Wut auf die Justiz in NRW spricht aus einer Petition des Richters an den Bundestag: Im Apparat gebe es »Abspra- chen und Handlungen«, die dazu dienten, Holocaustüberlebenden zu schaden. Seine Petition trug dazu bei, dass der Bundestag das Gesetz über die Ghettorenten reformierte. Zahlungen sind nun rückwirkend ab 1997 möglich.
NRW-Justizminister Thomas Kutschaty aber hatte genug von seinem Richter. Er strengte ein Disziplinarverfahren wegen Rufschädigung gegen ihn an: Renesse habe den Ruf seiner Kollegen und der Sozialgerichte beschädigt – gefordert wurde eine Geldstrafe in Höhe von 5000 Euro: Das größtmögliche Fettnäpfchen war aufgestellt.
Lange sah es so nämlich so aus, als würde es tatsächlich zum Prozess gegen Richter Rücksichtsvoll kommen, obwohl das Dienstgericht auf eine außergerichtliche Einigung drängte. Zur Einigung kam es quasi in letzter Minute. Wohl auch wegen des öffentlichen Drucks.