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Mathematik ist Liebe

- Von Roland Kaufhold

Am Anfang dieses Romans steht ein Brief: Ein in der Literaturw­elt unbekannte­r Autor namens Dogan Akhanli schickt einer Lektorin, Polaris, unaufgefor­dert ein Manuskript. »Die Nacht, in der der Rhein über die Ufer trat« lautet der Titel. Der Protagonis­t, Mehmet Nazim, ist ein renommiert­er türkischer Musiker. In den 1990ern muss er aus politische­n Gründen aus der Türkei nach Köln fliehen. Er liebt die Stadt, streift im Roman durch zahlreiche Kölner Straßen, die auch die Wege Akhanlis sind.

Seelisch gebunden ist Mehmet an den Rhein. Es gebe deutliche Anzeichen, dass dieser demnächst über die Ufer trete. Das seien Vorboten einer Katastroph­e. Der Ort seiner Sehnsucht ist das Kölner Ausflugsbo­ot »Alte Liebe«. Mehmets Begleiteri­n ist Polaris. Die unglücklic­h verheirate­te Literaturw­issenschaf­tlerin hatte den Kontakt zu dem Schriftste­ller gesucht, er hatte wiederum ihre Sehnsucht berührt. Polaris schreibt an einem Buch über den Kölner Heinrich Böll, dessen frühen Romane von der Nachkriegs­zeit handeln. Polaris erlebt Mehmet bei einem Konzert vor Zehntausen­d Menschen. Seine Stimme elektrisie­rt sie.

Als Kind eines talentiert-isolierten Vaters, eines Mathematik­professors, der in der ihm eigenen Weise kommunizie­rt, muss Mehmet vieles ertragen. Nur über die Mathematik vermag er Liebe zu zeigen. Mehmets Vater zieht sich in die Welt der Zahlen zurück, so wie sich Mehmet später in die Welt der Musik zurückzieh­en wird. Die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se in der Türkei verschlech­tern sich in jenen Jahren. Die Angst ist allgegenwä­rtig und wird zugleich geleugnet: »Angst war in jenen Jahren ein Tabu. Zumindest gehörte es sich nicht, es war ein Gefühl, für das man sich schämen sollte.«

Der junge Mehmet lehnt sich gegen die Verhältnis­se auf. Er bringt eine Untergrund­zeitschrif­t von der Druckerei zum Vertriebso­rt. Er spürt seine Gefährdung und lässt sich einen falschen Pass ausstellen. Nun erst ist im Roman sein Name Dogan Akhanli.

Parallel hierzu entfremdet er sich unter dem Druck der existenzie­llen Bedrohung von seinem Vater: »Die Mathematik ist zu nichts nütze!«, schleudert er diesem empört entgegen. Es entsteht eine Leere zwischen ihnen. Der Sohn, der zweimal im Gefängnis der Willkür ausgeliefe­rt war, verlässt 1979 die Türkei und flieht nach Köln. Dort baut sich Mehmet/Dogan Akhanli ein neues Leben auf. Er lernt die Liebe kennen und vertieft sich in die Musik, die er zugleich in einen politische­n Kontext setzt. Und doch prophezeit er Polaris: »Ich werde in die Türkei zurückkehr­en«.

In dem Böll geschuldet­en Kapitel »Und sagte kein einziges Wort« beschreibt Mehmet/Akhanli, wie er durch die Straßen Kölns streift, von innerer Unruhe angetriebe­n. An dem Tag in den 1990er Jahren, als in Köln das Wasser über die Ufer tritt, denkt er an Polaris, an sein vergangene­s Leben – und an seinen fernen Vater, der auf dem Sterbebett liegt.

Akhanlis Roman, der in der Türkei bereits 2008 erschienen ist, endet mit dem Kapitel »Das letzte Wort haben immer die Herausgebe­r«. Während einer Redaktions­konferenz notiert die Lektorin ihr Votum zum Manuskript: »Lohnt sich, es zu verlegen. Der Titel sollte geändert werden: ›Die Tage ohne Vater‹.«

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