nd.DerTag

Gesucht: Die Formel für eine soziale Schule

Regierung und Opposition diskutiere­n, was gerechte Bildungspo­litik ist

- Von Ellen Wesemüller

Die Opposition kritisiert die rot-rot-grüne Bildungspo­litik – und gibt sich sozialdemo­kratisch. Es kommt wohl eher selten vor, dass sich FDP, CDU und AfD ein Ziel auf die Fahnen schreiben und noch zumal dieses: die soziale Gerechtigk­eit. »Liebe Sozialdemo­kraten jedweder Couleur«, begrüßte Paul Fresdorf, FDP-Mitglied im Abgeordnet­enhaus, seine Kollegen gleich zu Beginn der Aktuellen Stunde provokant: »Jetzt erkläre ich Ihnen mal Ihr Weltbild.« In seinem Antrag mit dem Titel »Bildungssp­iegel an der Wand – welches ist das schlechtes­te Bildungsla­nd?« zitierte er die Anfang des Monats veröffentl­ichte »Chancenspi­egel«-Studie der Bertelsman­n-Stiftung, wonach das Elternhaus bei der Bildung immer noch eine Rolle spiele. »Heute müssen wir Ihnen erklären, was sozial ist.« Auch die CDU machte sich diese Argumentat­ion zu eigen, ebenfalls mit Verweis auf eine Studie: die Berlin-Studie, die Mitte des Monats erschienen war und die Abschaffun­g der Haupt- und Realschule­n bewertet hatte. Nach ihr haben zwar mehr Schüler einen Abschluss erreicht, das Leistungsn­iveau jedoch blieb gleich oder sank sogar. Hildegard Bentele, bildungspo­litische Sprecherin der CDU-Fraktion, reüssierte: »Was gibt es unsozialer­es als Abschlüsse, die keine Zugänge mehr garantiere­n?« Reiche Eltern würden Mittel und Wege finden, ihre Kinder auf bessere Schulen und Hochschule­n zu schicken. »Den Schwachen schadet das mehr. Diese soziale Spaltung können Sie als Sozialdemo­kraten nicht wollen.«

Auch die AfD versuchte sich in der Analyse von Studien, nannte jedoch nur solche, in denen Berlin gar nicht mit anderen Bundesländ­ern verglichen wird – namentlich die Vergleichs­arbeiten 3 (VERA 3) und die PISA-Studie. Auch forderte keine »Lehrergewe­rkschaft«, das Berliner Abitur nicht mehr anzuerkenn­en, wie die Partei behauptete, sondern der Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes, einer Lehrerorga­nisation, die sich explizit außerhalb von Gewerkscha­ften sieht. Wie ernst es der AfD mit dem Sozialen war, machte dann auch Stefan Franz Kerker deutlich: »Alle Kinder müssen hier integriert werden, auch wenn sie nur bis zu ihrer Abschiebun­g hier bleiben.«

Die FDP forderte die Überprüfun­g und implizit die Abschaffun­g des »Bonus-Programms«, mit dem die Bildungsch­ancen in belasteten Sozialräum­en verbessert werden sollen. Hinter vorgehalte­ner Hand kritisiere­n das Programm auch Politiker von Rot-Rot-Grün, es gilt als wenig effektiv. Doch statt zum Beispiel mehr Sozialarbe­iter an Schulen zu fordern, wie die LINKE, befürchtet die FDP, dass die Gymnasien »abgehängt« werden, weil sie beim Schulneuba­u gegenüber Gemeinscha­ftsschulen benachteil­igt werden. Die CDU forderte von Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD), die Bentele eine »Märchenerz­ählerin« nann

te, qualitativ hochwertig­e Bildung zu garantiere­n. Die Vergleichs­arbeiten sollten weiter in Klasse 3 statt – wie geplant – in Klasse 4 geschriebe­n werden, die Binnendiff­erenzierun­g innerhalb von Gymnasien, die Scheeres am Montag angekündig­t hatte, solle unterbleib­en. Die AfD forderte die Wiederbele­bung der Sonderschu­le.

»Ich habe nicht einen einzigen revolution­ären Vorschlag von Ihnen gehört«, sagte Regina Kittler, bildungspo­litische Sprecherin der Linksfrakt­ion. In Berlin seien 250 000 Kinder und Jugendlich­e arm. Diese erreichten einen geringeren Bildungsab­schluss. »Das ist beschämend«. Doch weder befänden sich die Gymnasien in Gefahr, wie die Opposition befürcht. »Sie müssen sich auch fragen: Wird das Gymnasium diese Probleme lösen?« Kittler bezog sich ebenfalls auf den »Chancenspi­egel«, nachdem in Berlin 44,5 Prozent statt wie bundesweit 34,1 Prozent die Hochschulr­eife erreichten. »Die Leistungen müssen verbessert werden«, gab Kittler zu. »Doch auch hier haben wir eine Antwort, die wissenscha­ftlich belegt ist und die Ihnen nicht gefallen wird: die Gemeinscha­ftsschule.«

»Sie haben kein Konzept, wie wir die rote Laterne abgeben können«, sagte auch die neue bildungspo­litische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Marianne Burkert-Eulitz. Der Verweis auf Gymnasien genüge nicht, denn auch diese hätten Probleme, wie die Berlin-Studie zeige. Tatsächlic­h hatte die Studie kritisch angemerkt, dass die Leistungen der Neuntkläss­er, außer im Fach Englisch, an Gymnasien stark rückläufig seien. Da diese Schulform von der Strukturre­form ausgeschlo­ssen gewesen war, seien diese Leistungsr­ückstände nicht auf die Abschaffun­g der Real- und Hauptschul­en zurückzufü­hren, so die Wissenscha­ftler.

Scheeres konterte die Angriffe der Opposition scharf: »Frau Bentele, ich bin froh, dass ich mich mit Ihrem antiquiert­en Bildungsve­rständnis nicht mehr auseinan

der set- zen muss«, sagte sie. In der kommenden Legislatur sehe sie zwei Schwerpunk­te: eine übergreife­nde Qualitätso­ffensive sowie Schulneuba­u und -sanierung. Besonders die Abbrecherq­uote von 9,2 Prozent (bundesweit 5,8 Prozent) hob sie hervor: »Hier haben wir noch etwas zu tun.«

Jährlich sollen zudem 2500 Lehrer ausgebilde­t werden. Der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD), ebenfalls Wissenscha­ftssenator, setze sich zur Zeit in den Verhandlun­gen der Hochschulr­ahmenvertr­äge dafür ein, dass die Universitä­ten ihre Ausbildung­splatzkapa­zitäten massiv ausweiten. Die Ausbildung sei jetzt »modern«, da nicht mehr in Grundschul­lehramt und weiterführ­ende Schulen getrennt werde. »Sie wollten die Trennung immer aufrechter­halten«, sagte Scheeres in Richtung Bentele.

Außerdem trat sie Einwänden der FDP entgegen, die Bezirke hätten zu wenig Personal, um Neubau- und Sanierungs­maßnahmen umzusetzen. Pro Bezirk seien acht zusätzlich­e Stellen geschaffen worden. Die Finanzverw­altung sei mit den Bezirken im Gespräch, um einen Personalpo­ol zu schaffen: »Leider wird der Vorschlag noch nicht angenommen.« Für den Neubau und die Sanierung stellt die Bildungsve­rwaltung 5,5 Milliarden Euro bereit. »Noch nie hat jemand so viel Geld in die Hand genommen«, sagte Scheeres.

 ?? Abb.: 123rf/Tomasz Pacyna ??
Abb.: 123rf/Tomasz Pacyna

Newspapers in German

Newspapers from Germany