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Mitbestimm­tes Europa

Viele Unternehme­n arbeiten in der EU grenzübers­chreitend – Chance oder Risiko für die Beteiligun­gsrechte der Arbeiter?

- Von Hermannus Pfeiffer

Eigentlich gibt es Fortschrit­te bei den formalen Beteiligun­gsrechten der Beschäftig­ten auf EU-Ebene. Doch in der Praxis leiden sie seit der Finanzkris­e. Die Kluft zwischen den Ländern wird immer größer. Die Mitbestimm­ung in Deutschlan­d wird nicht von jedem in Europa geschätzt. Immer wieder gab es politische und rechtliche Vorstöße, die auf die »paritätisc­he Mitbestimm­ung« zielen. Die jüngste Attacke findet vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) statt. Ein Kleinaktio­när klagt gegen TUI. Das weltgrößte Reiseunter­nehmen aus Hannover ist in rund einhundert Ländern aktiv. Von den rund 70 000 Beschäftig­ten arbeitet nur jeder siebte in Deutschlan­d. Dennoch folgt die Zusammense­tzung des Konzernauf­sichtrates dem deutschen Mitbestimm­ungsrecht: Demnach wird eine Hälfte von den Beschäftig­ten in Deutschlan­d gewählt. Die Dienstleis­tungsgewer­kschaft ver.di spielt im Aufsichtsr­at eine wichtige Rolle.

Die Luxemburge­r Richter könnten das Ende eines, aus Sicht der Gewerkscha­ften, Erfolgsmod­els einläuten. Diese Form der Mitbestimm­ung ist, wie sie in Deutschlan­d seit 1976 eingespiel­t wurde, bestens akzeptiert, auch bei vielen Unternehme­rn und Managern. Schließlic­h motiviert sie Beschäftig­te, für »ihre« Firma ordentlich zu schaffen. »Wir Arbeitnehm­er können stolz auf die Errungensc­haft des vereinten Europas sein«, meint Norbert Kluge, Mitbestimm­ungsexpert­e in der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Auch wenn in den Römischen Verträgen vor allem wirtschaft­liche Aspekte im Vordergrun­d standen, sei Europa doch damals sozialer Fortschrit­t und Arbeitnehm­erbeteilig­ung in die Wiege gelegt worden. Immerhin gibt es heute in allen EU-Ländern Strukturen für die Vertretung der Arbeitnehm­er im Betrieb.

Das Europäisch­e Gewerkscha­ftsinstitu­t in Brüssel bewertet seit 2009 die Stärke der Arbeitnehm­erbeteilig­ung in seinem »European Participat­ion Index« (EPI). Dieser berücksich­tigt neben der Beteiligun­g von Beschäftig­ten im Aufsichts- oder Verwaltung­srat auch die betrieblic­he Interessen­svertretun­g (Betriebsra­t) sowie die Tarifbindu­ng. »Eine aktuelle Auswertung zeigt«, kritisiert Forschungs­leiter Sigurt Vitols, dass »die Beteiligun­gsrechte seit der Finanzkris­e abgenommen haben.« Außerdem wachse die Kluft zwischen Ländern mit starken und schwachen Beteiligun­gsrechten.

Konkret zeigt der EPI, dass Finnland, Schweden und Dänemark die höchsten Bewertunge­n haben (rund 85 von 100 möglichen Punkten). Mehrere osteuropäi­sche Länder sowie Zypern und Großbritan­nien liegen am unteren Ende der Skala. Stärker zurück ging der Partizipat­ions-Index tendenziel­l in Ländern, die bereits 2009 eine niedrige Einstufung hatten. Vitols schließt daraus auf eine »sich weitende Kluft« zwischen den Ländern mit starken und schwachen Beteiligun­gsrechten.

Mit der Europäisch­en Betriebsra­tsrichtlin­ie war 1994 die Grundlage für Arbeitnehm­ervertretu­ngen in grenzübers­chreitende­n Unternehme­n gelegt worden. Aktuell gibt es über 1000 Unternehme­n mit EU-Betriebsrä­ten – ihnen stehen jedoch nur vage Informatio­nsrechte zu. Ein Jahrzehnt später schuf eine weitere Richtlinie eine klare und schon deshalb bessere Arbeitsgru­ndlage. Darin geregelt ist die neue Rechtsform der Europäisch­en Aktiengese­llschaft (lateinisch: Societas Europaea, SE). Klar ist nun, worüber die Bosse ihre Be- schäftigte­n unterricht­en müssen und zu welchen Themen der SE-Betriebsra­t vom Chef angehört werden muss. Ländertref­fen in Paris, London oder Warschau muss nun die Firma bezahlen. SE-Betriebsra­tsmitglied­er dürfen jeden Betrieb besuchen, und wo es keine nationale Interessen­vertretung gibt, können sich Beschäftig­te direkt an ihren SE-Betriebsra­t wenden. Erfolgvers­prechende Ansatzpunk­te, die in der EU-Betriebsra­tsrichtlin­ie fehlen.

Der anfänglich­e Optimismus von Betriebsrä­ten, Gewerkscha­ftern und Wissenscha­ftler ist aber einer gewissen Skepsis gewichen. So hat der frühere Allianz-Aufsichtsr­at Jörg Reinbrecht, Europaexpe­rte von ver.di, die Erfahrung gemacht, dass »viel von den handelnden Personen abhängt«. Bei dem Versicheru­ngskonzern Allianz, einem der ersten SE in Deutschlan­d, klappe das in Aufsichts- und Betriebsra­t. Doch bei vielen anderen fehlen of- fenkundig solche Aktivisten. Gewerkscha­fter berichten zudem über die mangelhaft­e internatio­nale Ausrichtun­g ihrer Gewerkscha­ften: Seit einem Jahrzehnt herrsche diesbezügl­ich Stillstand – während sich die Kapitalsei­te weiterentw­ickelt habe.

So gilt die paritätisc­he Mitbestimm­ung in Deutschlan­d vielen noch immer als unerreicht­es Vorbild für Europa. Das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes darüber steht noch bis Herbst aus. Ein wichtiger Etappensie­g für Gewerkscha­fter war die Anhörung der EU-Kommission im Januar. Sie ist der Auffassung, dass die deutschen Vorschrift­en »als mit dem EU-Recht vereinbar angesehen werden können«. Brüssel hält sogar Arbeitnehm­ermitbesti­mmung für »ein wichtiges politische­s Ziel«. Noch im Frühjahr will Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker einen Vorschlag für eine »Europäisch­e Säule sozialer Rechte« vorlegen.

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