Gewalt, Angst, Verlorenheit
Pawel Salzmans Roman »Die Welpen«: Ein kostbares Fundstück aus Russlands klassischer Moderne
Im letzten Jahrzehnt kam eine Reihe von Übersetzungen literarischer Werke aus Russland heraus, die in der Zeit der klassischen Moderne entstanden oder später in deren Tradition verfasst, in der Sowjetzeit aber unterdrückt, verfälscht oder vergessen wurden. Dazu gehören das Gesamtwerk von Daniil Charms, Konstantin Waginow und Leonid Dobytschin, Gaito Gasdanows Romane und Wsewolod Petrows Novelle »Die Manon Lescaut von Turdej«. Und jetzt der Roman »Die Welpen« des Malers Pawel Salzman, der ein Schulkamerad Petrows war.
Salzman wurde 1912 als Sohn eines russlanddeutschen hohen Offiziers im moldawischen Chisinau geboren. Die Familie siedelte 1925 nach Leningrad über, wo der Vater eine Stelle als Buchhalter fand. Pawel, ein Schüler des berühmten Meisters der »analytischen Kunst«, Pawel Filonow, arbeitete ab 1928 als Bühnenbildner für Filmstudios, war an »Lenfilm«Aufnahmen im Ural, Pamir, Transbaikalgebiet und in Mittelasien beteiligt und wurde im Sommer 1942, nachdem seine Eltern während der Blockade umgekommen waren, nach Alma-Ata evakuiert. Da er wegen seiner deutschen Wurzeln nicht nach Leningrad zurückkehren durfte, war er bis zu seinem Tod 1985 für »Kasachfilm« tätig. Unter dem Einfluss der Oberiuten um Charms und des frühen Andrej Platonow schrieb Salzman eigenwillige Gedichte und Prosa, die posthum in Israel und seit 2003 auch in Russland veröffentlicht wurden. In Moskau erschien nach dem Gedichtband »Signale des Jüngsten Gerichts« 2012 auch der sechsteilige Roman »Die Welpen«, Salzmans Hauptwerk. Es entstand von 1932 bis 1952, mit Unterbrechungen durch den Krieg und die kulturrepressiven Kampagnen Stalins. 1982 hat es der Autor noch einmal bearbeitet. Trotz der langen Entstehungszeit blieb der Roman, der die brutale Gewalt der Re- volution und des Bürgerkriegs in Sibirien und Transnistrien und die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik in Leningrad schildert, unvollendet. Abgesehen davon, dass er auf eine stringente Fabel verzichtet, kaum Charaktere aufweist, deren Handlungsweise sozialpsychologisch motiviert ist, und seine Sprache streckenweise jede Norm verletzt, lassen sich im Chronotopos und in der Erzählperspektive Bruchstellen erkennen.
Alle Romangestalten bewegen sich in einem Milieu von Gewalt, Brutalität, Angst, Hunger, Kälte, Egoismus, Ohnmacht, Verlorenheit und Leere. Sie fühlen sich beschmutzt, besudelt, geschändet, sind für den Leser physiologisch nackt. Einige von ihnen wechseln ihre Identität oder verschwinden wieder aus dem Blickwinkel des Erzählers, der zugibt, nicht zu wissen, ob sie im transbaikalischen Ulan-Ude (wo Salzman 1932 bei Aufnahmen zu einem Bürgerkriegsfilm mitwirkte) oder in dem Mestetschko Rybniza am Dnjestr (wo Salzman von 1920 bis 1925 lebte) geblieben sind. Noch charakteristischer für Salzmans Roman ist, dass er die gesellschaftlichen Umbrüche ganz anders darstellt als Wessjolys »Russland in Blut gewaschen«, Pilnjaks »Das nackte Jahr« oder Seifullinas »Der Ausreißer«, bekannte Werke der Sowjetliteratur, in denen die »Roten« den »Weißen« gegenüberstehen, die einen die »Guten« und die anderen die »Bösen« sind. Nicht so bei Salzman. Soldaten, Bauern, Hungrige und Kinder, Figuren, die Petka, Kolka, Arkaschka, Lidotschka, Wera und Tanja und einfach Onkel und Neffe heißen, existieren gleichsam jenseits aller Ideologien, entscheiden aus dem Bauch heraus, handeln unberechenbar.
Und genau so verhalten sich ein Bär, ein Hase und eine dämonische Eule. Wie in der deutschen Romantik (Salzman, der perfekt Deutsch sprach, übersetzte Kleist, schätzte E.T.A. Hoffmann und Novalis) denken und agieren die Tiere wie Menschen. Die Eule (russisch »sowa«, die von man- chen als Inkarnation des »sowok«, des Sowjetmenschen, betrachtet wird) mutiert im letzten Romanteil zu einem bösartigen Vergewaltiger. Nur das Brüderpaar der Welpen, das im Verlauf der gesamten Romanhandlung präsent bleibt, bewahrt den Status der kindlichen Reinheit und Unschuld. Auf Anregungen der Romantik gehen auch die vielen Träume der Romanfiguren zurück. Doch ihre Traumwelten unterscheiden sich wenig von den absurden Tageswelten.
Ähnlich wie andere wiederentdeckte oder vollständig zugänglich gemachte avantgardistische Texte zwingt uns Pawel Salzmans Roman »Die Welpen«, die Geschichte der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts und ihre Hierarchien unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Pawel Salzman: Die Welpen. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit Nachworten von Oleg Jurjew und Christiane Körner. Matthes & Seitz. 460 S., geb., 30 €.