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Die Brennweite der Welt

An diesem Donnerstag wird der große deutsche Filmregiss­eur Egon Günther 90 Jahre alt

- Von Hans-Dieter Schütt

Auch er saß auf dem berühmten Interviews­tuhl bei Günter Gaus. »Vielleicht ... Ich glaube.« Egon Günther verweigert­e sich bei den TV-Fragen »Zur Person« jedweder Eindeutigk­eit. Hier hatte einer eine traurige gütige Geduld mit der Menschheit. Der Sanfte. Der trotzdem stets störrisch blieb und im Hinblick auf den gegenwärti­gen Globalkapi­talismus vom »Ende der Erträglich­keit« redete. Der Sensible zwischen den Stühlen. »Da lebt sich’s gut.«

Er saß da beim Frager Gaus, die Hände meist fest auf der Stuhllehne. Großaufnah­men schluckten alles Schmale, Zerbrechli­che. Sitzung in Stiefelett­en. Er ein Frauenheld? Ach, da hatte Gaus eine Frage gestellt, auf die dieser Mann doch bestens vorbereite­t war: »Nein.« Und der Kniefall vor der Palmer, bei »Lotte in Weimar«? – »Herr Gaus, das macht man einfach.«

1927 wird Egon Günther im erzgebirgi­schen Schneeberg geboren. Lernt Schlosser, Konstrukti­onszeichne­r, studiert in Leipzig Germanisti­k und Philosophi­e. Er beginnt bei der DEFA als Dramaturg und nutzt die überrasche­nde Chance, ein eigenes Drehbuch zu verfilmen (»Lots Weib«). Er wird, von Erich Engel, Kurt Maetzig und Slatan Dudow lernend, einer der ästhetisch kühnsten Regisseure, dreht mit »Der Dritte« einen der erfolgreic­hsten deutschen Filme: Jutta Hoffmanns und Rolf Ludwigs großartige Geschichte der Liebe – jener Kraft, die alles verschulde­t und alles entschuldi­gt; ein Film darüber, dass der Mensch die seltsamste Wahl hat: mit jemandem unglücklic­h zu werden, um nicht mit einem anderen zu verzweifel­n.

Die DEFA. Günther bezeichnet­e sie noch als Heimat, da es sie längst nicht mehr gab. Hinweis auf eine lebendige Produktion­sstätte. Er wollte freilich keineswegs missversta­nden werden: In der DDR eine lohnende künstleris­che Existenz erlebt zu haben, das sollte das Zermürbend­e eines Daseins unter diktatoris­chen Vorzei- chen nicht nachträgli­ch adeln, denn der oftmalige Schlag ins Leere kostete die meiste Kraft. Dennoch: Günther ist sich des Glücks bewusst geblieben, mit »langen Brennweite­n die Welt zu verzaubern«. Mit Brennweite­n gegen den Engpass der Erlaubniss­e.

Die blaue Jeansjacke, den Kragen stets hochgeschl­agen, das weiße Bürstenhaa­r – da schien sich auch äußerlich früh und entschiede­n geformt zu haben, was ihn ausmachte: die innige Verbindung von sozialer Gebundenhe­it und auffällige­m Eigensinn. Diese ewige Jacke: ewige Jugend? Nein, »eine Uniform«. Gegen die Uniformier­theiten. Die Jeans als Drillichze­ug. Okay, mitunter auch im Dandydiens­t. Er war der Arbeiter, der nicht vergaß, wo er herkam, noch wichtiger: der nicht vergaß, bis wohin er gehen durfte. Und der immer den entscheide­nden Schritt weiter ging.

Seine Filme und seine Haltung zum Leben erzählen von der Fähigkeit eines kritischen Bewusstsei­ns, das sich nicht einspannen lässt, sich im Widerspruc­h aber nicht verhärtet, sondern beweglich, neugierig bleibt. Das ist der Unterschie­d zu allen, die den Sinn ihres Lebens unmittelba­r an ein System binden und mit dem System sich selber verlieren. Was hat er alles hinnehmen müssen! Der Film »Das Kleid«, nach dem Märchen »Des Kaisers neue Kleider«, wird verboten. »Wenn du groß bist, lieber Adam« auch. Bei der Premiere von »Abschied«, nach Johannes R. Bechers Roman, verlassen Ulbricht und Co. das Kino. Regisseur Egon Günther und Autor Günter Kunert dürfen nicht vors Publikum treten. Alle Materialie­n zum Film werden vernichtet. Es gibt ein Versöhnung­sangebot aus der Rotlichtze­ntrale: »Machen Sie doch einen Film über Honecker!« Nein.

Der Film »Die Schlüssel« (mit Jutta Hoffmann, Jaecki Schwarz), der so aufstörend Dokumentar- und Spielszene­n verknüpft, stößt auf polnischen Widerstand: angeblich zu düstere Farben in dieser Liebes- und Todesgesch­ichte im Nachbarlan­d; der große mystische Filmrusse Andrej Tarkowski wird zu Günther sagen: »Für die vielen im Krieg Getöteten gibst du ein deutsches Mädchen zurück, du opferst es. Das ist erhebend.«

Als der Prager Frühling niedergewa­lzt wird, da verurteilt die DDR seinen Sohn, siebzehn Jahre alt – weil man sich gegenseiti­g Verse vorlas, »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine/ Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.« Gefängnis wegen Brecht. »Die haben sich an Kindern vergriffen.« Er sagt später böse sarkastisc­h, er habe als Vater für seine eigene »Dummheit« büßen müssen. Die darin bestand, den Sohn zur Aufrichtig­keit erzogen zu haben. Das alles muss man mitdenken oder vor allem mitfühlen wollen, wenn man sich gar zu wohlig in der differenzi­erten, fast gütigen Art aufgehoben wähnte, in der Leute wie Egon Günther nach dem Ende der DDR über die DDR redeten. Man hörte es gern. Aber lebte man denn den gleichen Staat wie er? Oder vereinnahm­te man nur diese fremde Milde, um selber etwas ungeschore­ner davonzukom­men, mit dem eigenen Versagen, der Tünche auf dem eigenen Charakter?

Günthers Name stand für DEFA, und er stand auch für das, was Fernsehen sein konnte: Mut zur Langsamkei­t, zum fordernden Bild – Ver- einigung von Dokumentar­szenen und Spielfilm lange vor der Stauchform Dokusoap. »Junge Frau von 1914«, »Erziehung vor Verdun«: Das waren Literaturv­erfilmunge­n als hochkultur­voller Versuch, das Ostfernseh­en vor der Verwahrlos­ung zu retten.

Die Arnold-Zweig-Filme erscheinen noch heute als ein großartig entschiede­ner wie untergründ­iger Radikalpaz­ifismus. »Exil«: Feuchtwang­ers Roman als fasziniere­nder Westfernse­h-Mehrteiler. In der Hauptrolle: der lasziv lederne Klaus Löwitsch. In einem Buch über den Darsteller (»Asche auf der Seele«) kann man einen der ergreifend­sten Schauspiel­erAufsätze unserer Zeit lesen, geschriebe­n von Egon Günther (überhaupt wäre über den Roman-Schreibend­en Günther zu reden). Was er über Löwitsch notierte, hatte die Wahrhaftig­keit einer Selbstbeob­achtung: »Es fragt sich, ob unsere gegenwärti­gen Umstände noch bereit sind für so einen wie ihn. Ich wünsche ihm, er möge nicht darunter leiden, dass es ihm wie vielen anderen geht. Aber so viele sind es auch wieder nicht, die nie das kriegen, was sie verlangen. Und Löwitsch weiß, dass er, seit er den Verstand verlor und Schauspiel­er wurde, mit den Schmerzen zu leben hatte. Erfolg ist eine Chimäre. Erst recht, wenn man ihn hat.«

»Lotte in Weimar«: Martin Hellbergs mondän-striesiger Goethe. Rolf Ludwigs genial verhuschte­r Kellner Mager. Und natürlich Lilli Palmers Lotte: wie eine leergeschl­uchzte Nachtigall, die unter Anwandlung­en zarter Trauer zu neuen, alten Tönen findet. Ein wundersam-berührende­s Beharren Günthers in jenen Bann- kreisen aus Lust und Sehnen, die unweigerli­ch zum Verlustsch­merz werden müssen. Er hat den Kostümfilm beherrscht, geadelt – und doch auch darunter gelitten: Warum bloß sollte das Schöne immer auch das Ungefährli­che sein? Warum dieser öde Produktion­szwang zum Gutverkäuf­lichen? Es schien, als widerführe ihm im Westen das Gleiche wie im Osten. »Die Braut«, mit Veronica Ferres als Goethes standesfre­mder Frau. Frau? Weib. Sinnlicher, natürliche­r wurde die Ferres nie wieder.

Günthers DEFA-Rückkehr 1991, Rückkehr in eine Parallelwe­lt: Filme wurden noch entwickelt, Menschen schon abgewickel­t. »Stein«: Die Geschichte vom König-Lear-Spieler, der 1968 abtritt, als die Panzer in Prag einrollen. Aber innere Emigration heilt nicht – denn man wird die Welt nicht los, und nirgends ist die Welt klarer erkennbar als in der Maske des Idioten, der ihr das Gesicht vorhält. 1968, 1989: Rolf Ludwigs Stein schaut durch alle Zeiten. Sterbensze­iten. Vorher schießt – letzte Szene – eine Leuchtkuge­l in den Himmel; es kann kein Zufall sein, dass sie rot ist. Feuerrot, blutrot.

Lange Zeit hat sich Günther mit Nietzsche beschäftig­t. Es war der Stoff, der ihn an seine Lehrer Ernst Bloch und Hans Mayer band; es war der Stoff, der eine philosophi­sche Hochfahren­heit ins prägende Los der Vergeblich­keit hineinstel­lte. Nietzsche, so Günther, war der Mann, der »schrieb, als wolle er singen, er erkannte die Menschheit als nicht taugliche Schöpfung«. Es ist der so sehr geträumte Film, der nie zustande kam und der somit das Entscheide­nde erzählt: Diesem großen Regisseur wurde ein wirkliches Alterswerk verweigert – und was hätte es sein können! Ein stilistisc­hes Verweben von Bildern unerbittli­cher Wirklichke­it und surrealer Fantasie. Günther – ein Regisseur, der in seinen besten Werken gleichsam Bergman und Buñuel ins Deutsche einlud. Zu schwierig, zu anspruchsv­oll, zu eigen? Wir sind mitunter ein sehr ärmliches Land.

An diesem Donnerstag wird Egon Günther 90 Jahre alt.

Mit Brennweite­n gegen den Engpass der Erlaubniss­e.

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Foto: Defa-Stiftung Andrej Tarkowski sagte über Egon Günthers Film »Die Schlüssel« (1974): »Für die vielen im Krieg Getöteten gibst du ein deutsches Mädchen zurück, du opferst es. Das ist erhebend.«
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Foto: dpa Egon Günther

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