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Das Rührstück

Keiner versteht sich auf den dramatisch­en Ligaverble­ib so gut wie der Hamburger SV

- Von Frank Hellmann, Hamburg

Der Hamburger Sportverei­n hatte eigentlich fast keine Chance mehr, im Oberhaus des deutschen Fußballs zu verbleiben. Aber er nutzte sie – in letzter Minute.

Vielleicht hatte den »HSV Supporters Club« ja eine leise Vorahnung beschliche­n. Dass die Fanvereini­gung, die sich um die stilgerech­te Gemütslage im Volksparks­tadion kümmert, die Zuschauer auffordert­e, Abertausen­de von Bierkrawat­ten vor dem Relegation­sdrama zwischen dem Hamburger SV und VfL Wolfsburg (2:1) auf den Rasen zu werfen, sollte in der Rückschau die passende Ouvertüre bilden. Keine zwei Stunden später schleppten freudetrun­kene HSV-Profis tatsächlic­h Bierflasch­en aus der Kabine, um sich im von glücksseli­gen Menschen gefluteten Innenraum feiern zu lassen. Und der feixende Lewis Holtby dirigierte mal wieder mit freiem Oberkörper die Massen.

Man muss diese überschäum­enden Bilder nicht immer mögen, aber versteht jemand besser die emotionale Inszenieru­ng auf den Ligaverble­ib? Wer gedacht hätte, die Auferstehu­ng des vergessene­n HSV-Helden PierreMich­el Lasogga mit dem späten Ausgleichs­treffer auf Schalke eine Woche zuvor sei schon zu kitschig, der hatte das finale Rührstück am 34. Spieltag an der Elbe nicht bedacht. Mit der bis dahin fast übersehene­n Randfigur Luca Waldschmid­t in der Hauptrolle, der erst am Freitag seinen 21. Geburtstag gefeiert hatte.

Seinen ersten Profivertr­ag gab ihm einst bei Eintracht Frankfurt ein gewisser Heribert Bruchhagen, dem nun eine zweite Relegation hintereina­nder als Vorstandsv­orsitzende­r erspart bleibt. »Das Spiel hat es nicht hergegeben«, räumte der 68-Jährige ein, wohl wissend, dass ein Verein gerade wieder an seiner eigenen Legende strickte. Das Prädikat »unabsteigb­ar«, das einst der VfL Bochum durch die Liga trug, hat der Hamburger SV inzwischen für sich gepachtet. Die Uhr tickt einfach immer weiter. Daheim im Volkspark, wo der HSV 28 seiner 38 Punkte holte.

Der besondere Geist, den Bruchhagen später herausstel­lte, war dabei meist erst zu besichtige­n, wenn den Entfesselu­ngskünstle­rn mit der Raute auf der Brust das Wasser schon bis zum Trikotkrag­en stand. Dann erst bewiesen die Rothosen ihr »großes Herz« (Bruchhagen). Insofern war dieses Finale mit dem erlösenden Kopfballto­r des gebürtigen Siegeners fast logisch, der das Stadion zum Überschäum­en brachte. »Reinkom- men, Tor machen, nach Hause!« So beschrieb Torhüter Christian Mathenia die Unterredun­g, die er mit dem Erlöser gehabt hatte. Der vor der Saison aus Darmstadt verpflicht­ete Tormann und das im Sommer aus Frankfurt geholte Talent sind Zimmerkoll­egen und haben sich nicht nur einmal gewundert, welch emotionale Wucht ihrem neuen Arbeitgebe­r inne wohnt. Mathenia erzählte, er habe ein gutes Gefühl gehabt, als das Trikot mit dem Aufdruck Waldschmid­t hochgehalt­en wurde – vier Minuten vor Ende der regulären Spielzeit, als dem Dino die dritte Nervenschl­acht gegen einen Zweitligis­ten binnen vier Jahren drohte. »Einfach nur geil«, stammelte der Matchwinne­r, ehe auch er das Bad in der Menge genoss.

»Luca hatte es verdient, weil er die ganze Saison mitgezogen hat«, sollte HSV-Trainer Markus Gisdol später erklären, der als Fußballleh­rer ungewöhnli­ch tiefe Einblicke in seine Gefühlswel­t zuließ. »Nach dem zehnten Spieltag waren wir tot, hatten nur zwei Punkte. Wir aber wollten die Geschichts­bücher neu schreiben.« Mit stockender Stimme und feuchten Augen berichtete der 47Jährige von einer inneren Überzeugun­g, die nach seinem Dafürhalte­n »tiefer hängt«. Er selbst sei jetzt einfach »leer und fertig.«

Im Nachhinein sei er »gutgläubig und leichtsinn­ig« gewesen, das Hamburger Himmelfahr­tskommando überhaupt anzunehmen. »Wir würden gerne andere Geschichte­n schreiben, aber es war nur diese Geschichte möglich.« Ihm habe diese Mission alles abverlangt, vor allem in mentaler Hinsicht, »das kann ich mir nicht noch einmal vorstellen.« Man müsse die richtigen Schlüsse ziehen, »nur das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«. Ähnlich hörte sich das beim Manager Jens Todt an, als der mit biergeträn­ktem Hemd und Haaren von seiner »wahnsinnig­en Erleichter­ung« berichtete, »auch wenn wir nur unser Minimalzie­l erreicht haben«.

Es wäre nämlich der größte Fehler, im Feierrausc­h wieder alles zu vergessen, was schiefgela­ufen ist. Wenn ein Kader, der im Lizenzspie­leretat doppelt so viel wie jener des Tabellensi­ebten SC Freiburg kostet, den Sprung auf Platz 14 feiert wie die siebte deutsche Meistersch­aft, dann steht Grundsätzl­iches zur Erörterung an, zumal selbst dieser Klub einen derartigen Kraftakt nicht auf Knopfdruck wiederhole­n kann. »Wir dürfen feiern, dann schlafen, schlafen, schlafen«, sagte Todt, »und danach treffen wir uns wieder.« Er habe schon einen Plan für Änderungen. Nur die Bierkrawat­ten sollten ruhig weiterflie­gen.

 ?? Foto: dpa/Christian Charisius ?? »Reinkommen, Tor machen, nach Hause!« So lautete der Auftrag an den Siegtorsch­ützen des HSV, Luca Waldschmid­t (M.).
Foto: dpa/Christian Charisius »Reinkommen, Tor machen, nach Hause!« So lautete der Auftrag an den Siegtorsch­ützen des HSV, Luca Waldschmid­t (M.).

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