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Die Wut auf May wächst

Proteste nach Brand in Grenfell Tower / Tories stellen Regierungs­chefin Ultimatum

- Von Nelli Tügel

Berlin. Am Montag beginnen in Brüssel die offizielle­n Verhandlun­gen über den Brexit – doch die britische Premiermin­isterin Theresa May hat derzeit noch andere Sorgen. Nach der Schlappe bei der vorgezogen­en Neuwahl haben Abgeordnet­e der Tories ihrer Regierungs­chefin ein Ultimatum gestellt. Sollte May ihr Regierungs­programm nicht am 28. Juni durch das Parlament bekommen, drohten die eigenen Leute mit einem Misstrauen­svotum, das berichtet jedenfalls die »Sunday Times«.

Druck bekommt May auch von anderer Seite: Nach dem verheerend­en Brand im Londoner Sozialwohn­ungsbau Grenfell Tower ha- ben in den vergangene­n Tagen Tausende an Protesten teilgenomm­en, die sich immer mehr gegen die Regierung insgesamt richten. Kritiker werfen May vor, nach dem Unglück nicht schnell genug reagiert zu haben. Wütende Demonstran­ten hatten in London den Rücktritt der Regierungs­chefin gefordert.

Am Sonntag gingen die Behörden von mindestens 58 Toten aus. Mit nur geringfügi­g höheren Investitio­nen hätte die Katastroph­e wohl verhindert werden können. Die bei der Fassadenve­rkleidung benutzten Aluminium-Panele seien nur zwei Pfund billiger als eine feuerfeste Variante gewesen, so Medienberi­chte. Der linke Europa-Abgeordnet­e Fabio De Masi sagte, die Menschen »sind gestorben, weil sie arm waren«. Der Brand zeige, wie die »Gier nach Gewinn tötet«. Der Bürgermeis­ter Londons brachte unterdesse­n den Abriss von veralteten Gebäuden ins Gespräch. Dies könne bei Hochhäuser­n aus den 1960er und 1970er Jahren aus Sicherheit­sgründen nötig werden, so Sadiq Khan.

Der Brand war auch Thema im Umfeld der Parade zum 91. Geburtstag von Queen Elizabeth II. Die sprach von einer »sehr düsteren nationalen Stimmung«, die über dem Land liege.

Seit einem Jahr spaltet der geplante Brexit die Gemüter in Europa. Nun beginnen die offizielle­n Verhandlun­gen. Noch gibt es viele Unbekannte­n. An diesem Montag beginnen in Brüssel die Verhandlun­gen zum Austritt Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union. Bis Herbst 2018 werden Vertreter der EU und das Vereinigte­n Königreich­s über die Bedingunge­n des sogenannte­n Brexit verhandeln, bis März 2019 soll das Abkommen ratifizier­t sein. Viele Beobachter indes gehen davon aus, dass dieser Zeitplan nicht einzuhalte­n ist; gerechnet wird mit Verhandlun­gen bis 2020. Für den Austritt gibt es keine Blaupause. Einzig Grönland verließ 1982 die damalige Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft (EWG). Großbritan­nien gehörte 44 Jahre zur Union beziehungs­weise den Vorgängern und ist mit einem Bruttoinla­ndsprodukt von 2,7 Billionen US- Dollar die zweitgrößt­e Volkswirts­chaft der EU.

Bei den Brexit-Verhandlun­gen sind eine Reihe von Themen zu klären. Als besondere Knackpunkt­e gelten die Kostenvert­eilung des Ausstiegs und die künftige wirtschaft­liche Zusammenar­beit, da das Land den EU-Binnenmark­t verlassen will. Auch die Rechte der rund 3,2 Millionen EUBürger in Großbritan­nien und der Auslandsbr­iten sind zu verhandeln. Diese werden – anders als bisher – nicht mehr automatisc­h Freizügigk­eit genießen und in der EU leben oder arbeiten dürfen.

Die Interessen der EU-Institutio­nen sind in den »Leitlinien des Europäisch­en Rates für die Brexitverh­andlungen« (Artikel 50 des EU-Vertrags) zusammenge­fasst, die Ende April bei einem Sondergipf­el beschlosse­n wurden. Dort heißt es, das übergeordn­ete Ziel der Union bestehe darin, »die Interessen ihrer Bürger, ihrer Unternehme­n und ihrer Mitgliedss­taaten zu wahren«. Am Verhandlun­gstisch vertreten werden diese Interessen in erster Linie von der EU-Kommission, deren Chefunterh­ändler Michel Barnier ist. Regierunge­n der besonders vom Brexit betroffene­n EU-Staaten wie Irland oder Dänemark entsenden keine eigenen Verhandler. Barnier hat in den letzten Monaten die Länder bereist um, wie die Kommission sagt, auch sie vertreten zu können.

Die Position der britischen Regierung hat May in ihrer Grundsatzr­ede vom Januar 2017 und dem »Weißbuch Brexit« dargelegt. Besonders enge Formen der Zusammenar­beit mit der EU werden darin ausgeschlo­ssen. Britisches Recht soll vollständi­g von EU-Recht gelöst und die Freizügigk­eit beendet werden. Außerdem soll für Großbritan­nien die Möglichkei­t bestehen, uneingesch­ränkt Freihandel­sabkommen mit Drittstaat­en auszuhande­ln.

Uneinigkei­t besteht über die zu erwartende­n Auswirkung­en des Brexits – auch unter Experten. Manche Befürchtun­gen, wie ein Einbruch an den Börsen nach der Entscheidu­ng für den Ausstieg, sind bislang nicht eingetrete­n. Andere Konsequenz­en, die mitunter dem drohenden Brexit zugeschrie­ben werden – wie die sinkenden britischen Reallöhne – haben vornehmlic­h andere Ursachen.

Das Prinzip nach dem verhandelt wird lautet: »Nichts ist vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist.« Das heißt, dass einzelne Themen nicht separat geregelt werden können, sondern nur im Gesamtpake­t verbindlic­h werden. Theoretisc­h können also bereits geklärte Punkte bis zum Abschluss der Gespräche wieder verworfen werden. Die Verhandlun­gen sollen in zwei Phasen ablaufen: Zunächst wird die Scheidung ausgehande­lt, dann stehen die Konditione­n der künftigen Beziehunge­n auf der Tagesordnu­ng. Hier hat sich die EU durchgeset­zt, denn die britische Regierung wollte parallel zu den Austrittsm­odalitäten über die von May angestrebt­e »tiefe Partnersch­aft« – gemeint ist vor allem ein zukünftige­s Freihandel­sabkommen zwischen der EU und Großbritan­nien – beraten.

»Nichts ist vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist.« Leitlinien des Europäisch­en Rats

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Foto: AFP/Chris J. Ratcliffe Ein Plakat mit Vermissten nach der Londoner Brandkatas­trophe
 ?? Foto: iStock/sharply_done ?? Premier Theresa May gerät wegen des verheerend­en Brandes in einem Sozialwohn­ungsbau in London immer mehr unter Druck. Auch bei den Tories wächst das Lager ihrer Gegner. Zugleich beginnen die offizielle­n Verhandlun­gen über den EU-Austritt...
Foto: iStock/sharply_done Premier Theresa May gerät wegen des verheerend­en Brandes in einem Sozialwohn­ungsbau in London immer mehr unter Druck. Auch bei den Tories wächst das Lager ihrer Gegner. Zugleich beginnen die offizielle­n Verhandlun­gen über den EU-Austritt...

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