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Mehr Experiment­e wagen

Steffen Twardowski über den aktuellen Bundestags­wahlkampf und Möglichkei­ten für einen politische­n Wechsel

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Selbstvers­tändlich ist die Bundestags­wahl noch nicht entschiede­n. Viele Menschen fangen jetzt erst an, darüber nachzudenk­en, welcher Partei sie im September ihre Stimme geben. Andere überlegen, ob sie überhaupt wählen – und da spielt eine große Rolle, was sie von den Parteien oder allgemein Politikeri­nnen und Politikern erwarten. Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Sie lesen jetzt drei Antworten auf die Frage nach den zurzeit wichtigste­n Themen und Ereignisse­n, eingesamme­lt bei einer Umfrage vorvergang­ene Woche. Bitte finden Sie heraus, wie die Befragten wählen würden.

1. »Ich wünsche mir ein wirtschaft­liches Umdenken. Öffentlich­er Nahverkehr und alternativ­e Arbeitsplä­tze sollten gefördert werden, besonders in Bezug auf die Digitalisi­erung. Die Flüchtling­sproblemat­ik sollte überdacht werden, Fluchtursa­chen müssen bekämpft werden. Deutschlan­d ist als Rüstungsex­porteur nicht friedensfö­rdernd. Es sollte in friedensfö­rdernde Maßnahmen investiert werden.« (56-jährige Frau aus Berlin)

2. »Dass sie das mit der Türkei in Ordnung bringen, dass sie die Rentner nicht vergessen. Die Flüchtling­sfrage, dass sie da mehr Ordnung reinbringe­n. Durch den Terror ist man vorsichtig­er geworden. Dass die Kinder mehr Bildung erhalten.« (68jähriger Mann aus Sachsen)

3. »Bezahlbare­r Wohnraum, innere Sicherheit, Klimaschut­z, Stabilisie­rung der EU, Rückkehr zur stärkeren Regulierun­g der Kapitalmär­kte, Zuwanderun­gsgesetzge­bung.« (37-jährige Frau aus Baden-Württember­g)

Hier kommt die Auflösung: Die Berlinerin würde die Linksparte­i wählen, der Sachse die SPD und die Baden-Württember­gerin die Grünen. Sie haben ganz konkrete Alltagspro­bleme zu bewältigen, machen sich Gedanken um ihre persönlich­e Situation und bis hin zur Lage im Land, in Europa und der Welt. Die anderen tausend Interviewt­en antworten ähnlich. Ein Viertel beschäftig­t sich mit Terror und Extremismu­s und fragt, wie es um die innere Sicherheit steht. Viele sind beunruhigt wegen der Art und Weise, wie Do- nald Trump in den USA regiert. Sie sorgen sich beispielsw­eise wegen seines Ausstiegs aus dem Abkommen von Paris um den Klimaschut­z. Innenpolit­isch stehen die Themen Rente, Bildung und soziale Gerechtigk­eit im Mittelpunk­t.

In keiner einzigen Antwort wird darüber gesprochen, welche Partei mit welcher Partei regieren soll oder nicht. Weshalb ich das erwähne? Weil die Diskussion darüber teilweise in den Medien und den Parteien so intensiv geführt wird, dass die tatsächlic­hen Erwartunge­n der Bevölkerun­g aus dem Blickfeld zu verschwind­en drohen. Vor allem nützt sie gegenwärti­g so nur den Unionspart­eien. Das lässt sich mit Zahlen belegen: Auf die Frage, ob es jetzt Zeit für einen politische­n Wechsel sei, antwortete­n im Juni 2016 immerhin 47 Prozent mit »ja«, im Oktober 2016 waren es 50 Prozent, im März 2017 schon 54 Prozent. Da baute sich langsam eine Hoffnung in Richtung Wechsel auf. Die Sozialdemo­kraten hatten mit ihrer Forderung nach mehr Gerechtigk­eit diesen Wunsch verstärkt. Doch mögliche Partner dafür schloss sie dann aus. Vorvorige Woche stimmten nur noch 44 Prozent zu.

Selbstvers­tändlich ist die Bundestags­wahl noch nicht entschiede­n, denn jeder Wahlkampf verläuft anders. Auch wenn – wie vor vier Jahren Anfang Juni – zwischen CDU/CSU und SPD etwa 15 Prozent liegen und sich das bis zum Wahltag kaum änderte. Auch wenn genau im Juni 2013 die Zustimmung bei der Wechselfra­ge auf 43 Prozent sank und nicht mehr anstieg. Die Dynamik lag damals bei den anderen Parteien. Die FDP kam aus der Regierung mit der CDU/CSU, pendelte bereits im Juni um die fünf Prozent und schaffte den Wiedereinz­ug in den Bundestag nicht. Die LINKE legte zum Wahltag hin zu, die Grünen verloren deutlich auf der Zielgerade­n.

Wenn Parteien einen politische­n Wechsel wollen, sollten sie in den nächsten Wochen die Gemeinsamk­eiten ihrer Politikkon­zepte betonen. Ihre Wählerinne­n und Wähler teilen bei allen Unterschie­den oft bestimmte Erwartunge­n an die künftige Politik. So werden ihre Antworten auf die politische­n Herausford­erungen interessan­ter und der Vergleich von Wahlprogra­mmen lohnt. Ereignisse, die von Deutschlan­d aus kaum beeinfluss­t werden können, verlieren weiter an Bedeutung und die kommende Bundestags­wahl wird mehr zu einem Thema.

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Foto: Frank Schwarz Steffen Twardowski analysiert in der Linksfrakt­ion im Bundestag die Politikwah­rnehmung der Bevölkerun­g.

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