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Schwarz-Weiß-Denken oben auf den Leninberge­n

Wo Kohl und Honecker einander ähnelten: Ein persönlich­er Rückblick auf den Altkanzler

- Von Werner Micke

Erst kurz vor ihrem Tod erfuhr ich, dass ich mit der ersten Ehefrau von Helmut Kohl eine Zeitlang auf dieselbe Schule gegangen war – am Ende des Krieges, in Döbeln. Beide waren wir Flüchtling­e, Hannelore Renner aus Leipzig vor den Bomben, ich aus Breslau vor der vorrückend­en Front.

Helmut Kohl in persona traf ich erstmals 1984 in Moskau. Juri Andropow war gestorben, und das pompöse Staatsbegr­äbnis wurde zu einem Gipfeltref­fen von Politikern aus aller Welt. Honecker hatte auf seinem Zettel mehr als ein Dutzend Leute, mit denen er reden wollte, und ganz oben stand Kohl.

Dieses erste Treffen fand in einer Residenz auf den Leninberge­n statt. Das Foyer war gedrängt voll Journalist­en aus Ost und West. Der Kanzler erschien, ohne Gruß, das Stimmengew­irr ebbte ab. Der alle überragend­e Kohl stand wie ein Pfahl. Ich versuchte vergeblich, ihm in die Augen zu blicken. Er verzog keine Miene, wechselte mit niemandem einen Blick oder gar ein Wort.

Eine kurze steife Begrüßung, als Honecker eintraf. Ganz anders die Atmosphäre nach knapp anderthalb Stunden: beide gelöst, in lockerem Gespräch. Ein gutes Omen für die Beziehunge­n beider Staaten? Ich grübelte, weshalb die beiden sich so gut zu verstehen schienen. Außer der beschwören­den Feststellu­ng, nie wieder dürfe Krieg von deutschem Boden ausgehen, hatte es – der vereinbart­en Mitteilung zufolge – kaum Annäherung in der Sache gegeben.

Erst langsam begann ich zu begreifen, worin sich die beiden ähnelten: in ihrer patriarcha­lischen, ja landesfürs­tlichen Grundhaltu­ng, in ihrem politische­n Schwarz-Weiß-Denken. Sie mussten unter vier Augen viel besser harmoniert haben, als die offizielle Meldung verriet. Ein Jahr später, bei Tschernenk­os Begräbnis, trafen sie sich wieder, locker von Anfang an. Vereinbart wurde Honeckers Visite in Bonn; aber wegen Gorbatscho­ws mehrfachem Njet kam die erst 1987 zustande.

Honeckers Begrüßung mit Fahne und Hymne erlebte ich dann als Durchbruch nach vierzig Jahren Spaltung. Bei der Vorstellun­g der Gäste in der Godesberge­r Redoute hatte der Protokollc­hef ein Blackout, ausgerechn­et als der Gastgeber meine Hand ergriff. Honecker half aus: Das ist Micke vom »Neuen Deutschlan­d«.

Mit Kohls Godesberge­r Rede kam die Bundesrepu­blik in der europäisch­en Realität an – später ein Makel für die Legende vom Kanzler der Einheit. Aber der Empfang für das DDRStaatso­berhaupt konnte zwei Jahre später nicht ungeschehe­n gemacht werden. Schon gar nicht, indem Kohl untätig zusah, wie dem anderen mitgespiel­t wurde: wie der Todkranke ins Gefängnis musste, ehe er zum Sterben nach Chile emigrieren konnte.

Wären die beiden mutige, weitsichti­ge Politiker gewesen, hätten sie mit ihrem Treffen 1987 für alle Deut- schen – und für ganz Europa – eine neue Zeit einleiten können. Dass Washington ein vereintes Deutschlan­d akzeptiere­n würde, war bekannt. Dass Moskau dabei war, die Haltung in der deutschen Frage zu überdenken, wussten beide. Klar war zudem, dass die DDR sich übernommen hatte und bei unveränder­ter Fortsetzun­g ihrer Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik auf schwere Turbulenze­n zusteuerte. Zu diesem Zeitpunkt gab es politisch für die DDR keine andere Chance als eine deutsche Perestroik­a, wirtschaft­lich keine andere als Zusammenar­beit mit der BRD. Der Wille, Grundsätze für eine deutsche Konföderat­ion zu vereinbare­n – das hätte historisch­es Ergebnis des Tref- fens in Bonn werden können. Doch dazu wären aus anderem Holz geschnitzt­e Politiker nötig gewesen. Aber recht besehen handelte es sich trotz aller Unterschie­de und Gegensätze um Leute gleichen Schlages, auf die Erhaltung der eigenen Macht und alles Bestehende­n bedacht.

Zwei Jahre später waren beide am Ende: Wegen seines Unvermögen­s, nötige Modernisie­rungen in die Wege zu leiten, war Kohls Chance, 1990 die Bundestags­wahl zu gewinnen, stark gesunken. Und Honecker hatte mit seinem Unwillen, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, in der DDR die Karre in den Graben gefahren. Doch nun bedeutete das Ende des einen für den anderen einen neuen Anfang. Kohl konnte seine Amtszeit um fast ein Jahrzehnt verlängern, weil er – sicher seine größte Leistung – begriff: Jetzt ist Zupacken angesagt, nicht Aussitzen. Erst war es wohl nur das Gespür, mit dem Einheitsth­ema die Wahl gewinnen zu können, das ihn zu rechter Zeit auf den rechten Dampfer steigen ließ.

Kohl packte also zu. Ohne Rücksicht auf Artikel 146 Grundgeset­z schluckte die BRD ruck-zuck die DDR, die West-CDU die Ost-CDU samt aller Finanzen und auch noch die Bauernpart­ei. Währungs-, Wirtschaft­sund Sozialunio­n wurden durchgepei­tscht; der Osten von der Treuhand für die westliche Konkurrenz ausgeweide­t; das Volkseigen­tum der Ostdeutsch­en zum größten Teil in westdeutsc­hen Besitz überführt.

So jedenfalls wuchs nicht zusammen, was zusammen gehört hätte. Kohl exekutiert­e in der Richtung, die Adenauer schon 1952 vorgegeben hatte: Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlan­ds unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervere­inigung, sondern Befreiung. Die DDR und viele ihrer Bürger wurden in blindwütig­em Antikommun­ismus kriminalis­iert, Ossis erst mal von allen wichtigen Schalthebe­ln verdrängt. Vielen kam es vor, als lebten sie in einem besetzten Land. Ein Vierteljah­rhundert später saßen zwar in Kanzleramt und Schloss Bellevue einstige DDR-Bürger, doch die an jedem 3. Oktober 1190 gepriesene Einheit lahmt weiter, der geschröpft­e Osten hinkt, auch bei Löhnen und Renten, weit hinterher.

Was aber hätte aus einem demokratis­ch, in Augenhöhe geeinten Land werden können, wenn alle Deutschen vom ersten Tag an demokratis­ch, mit gleichen Rechten und Pflichten an seiner Gestaltung beteiligt worden wären! Und alle daran gemessen, welchen Beitrag sie leisten! Ich bin überzeugt, eines Tages wird die Geschichte die Fehlgriffe im Vereinigun­gsprozess klar benennen und auch Kohl auf den verdienten Platz stellen. Durch seine Haltung in der Parteispen­denaffäre 1999 hat er den falschen Heiligensc­hein selbst unbeabsich­tigt demontiert. Durch Vernichtun­g von Akten, Schweigen über Finanziers und Freikauf von Strafe für 300 000 Mark glaubte er die Hintergrün­de der Schmiergel­daktionen vernebeln zu können.

Doch vertan hat er damit auch die Chance, sich gegen die Vorwürfe zu verteidige­n. So bleibt der Verdacht, der Kanzler der Einheit sei käuflich gewesen, vielleicht sogar durch eine fremde Macht. Parteifreu­nd Franz Josef Strauß aus München hatte schon 1976 gelästert: Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterl­ichen, die geistigen und die politische­n Voraussetz­ungen. Ihm fehlt alles...

Am Ende hatte Kohl keine Familie und keine Freunde mehr – richtige hatte er vielleicht nie. Dafür, noch als Kanzler, dann weiter als Pensionär, eine Freundin in Berlin. Seine Haltung beim Freitod seiner Frau hat selbst treue Anhänger ernüchtert. Auch wer das Schmiergel­d-Ehrenwort gelten ließ, verstand nicht, dass der 71-jährige Ruheständl­er die Schwerkran­ke in Oggersheim allein ließ. Ein abstruser Wahlkampf gegen rote Socken in Berlin war ihm wichtiger, als ihr beizustehe­n. Hätte er wenigstens an ihrem Todestag einmal zu Hause angerufen, hätte er gemerkt, dass etwas Schlimmes geschehen war.

Politik, heißt es, verderbe den Charakter. Sie kann auch – zumal gepaart mit ideologisc­hem Wahn – Menschlich­keit zerstören. Helmut Kohl wird ein tragisches Beispiel dafür bleiben.

Werner Micke war stellvertr­etender Chefredakt­eur von »Neues Deutschlan­d« für Außenpolit­ik.

Wären die beiden mutige, weitsichti­ge Politiker gewesen, hätten sie mit ihrem Treffen 1987 für alle Deutschen – und für ganz Europa – eine neue Zeit einleiten können.

Bei Kohl und Honecker handelte es sich trotz aller Unterschie­de und Gegensätze um Leute gleichen Schlages, auf die Erhaltung der eigenen Macht und alles Bestehende­n bedacht.

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Foto: dpa Generalsek­retär vor dem Kanzleramt: Kohl empfängt Honecker 1987 in der Bundesrepu­blik

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