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SS mordete mit Stift und Pistole

Gedenkstät­te Sachsenhau­sen zeigt Ausstellun­g über Schreibtis­chtäter und ihre Handlanger

- Von Andreas Fritsche

13 000 sowjetisch­e Kriegsgefa­ngene sollten umgebracht werden. Bei der SS haben im Herbst 1941 fast alle mitgemacht – vom Kommandant­en des KZ Sachsenhau­sen bis zum einfachen Wachmann. SS-Untersturm­führer Heinrich Wessel (1904-1996) war von Beruf Buchhalter und als Adjutant des KZ-Kommandant­en Anton Kaindl im Lager Sachsenhau­sen ein kaltherzig­er Bürokrat, ein klassische­r Schreibtis­chtäter, dienstbefl­issen und eitel. Soweit man weiß, ist er nie persönlich gegen Häftlinge tätlich geworden. Doch an den schrecklic­hen Massenmord­en war er dennoch beteiligt. Er leitete die Tötungsbef­ehle weiter und unterstütz­te die Ausführung der Morde logistisch.

1962, als Angeklagte­r vor dem bundesrepu­blikanisch­en Landgerich­t Verden, stellte sich Wessel als »kleines Rädchen« dar und verharmlos­te seine Verbrechen mit der Aussage, »lediglich Briefe geöffnet zu haben«. Das Landgerich­t verurteilt­e ihn wegen Beihilfe zum Mord in 16 Fällen und Beihilfe zum Totschlag in einem Fall zu siebeneinh­alb Jahren Haft. Doch bereits 1966 kam er wieder frei und verlebte, 1969 pensionier­t, die Jahre bis zu seinem Tod meist gut gelaunt im neuen Eigenheim. Dass er weit mehr als nur 17 Menschenle­ben auf dem Gewissen hat, war klar. Trotzdem kam er glimpflich davon.

Dabei gehört Wessel unter den Angehörige­n des KZ-Kommandant­urstabs noch zu den Ausnahmen, die überhaupt ins Gefängnis mussten. Weniger als sechs Prozent von ihnen sind angeklagt worden. »Es gab nur ganz wenige Verurteilu­ngen«, sagt Günter Morsch, Direktor der Stiftung brandenbur­gische Gedenkstät­ten.

Heinrich Wessels Lebensweg ist nachgezeic­hnet in der neuen Dauerausst­ellung »Arbeitstei­lige Täterschaf­t im KZ Sachsenhau­sen«. Zu den Exponaten gehört die Aktentasch­e von Wessel. Eröffnet wurde die Ausstellun­g mit rund 300 Fotos und 190 Dokumenten, Plänen und Zeichnunge­n am Sonntagnac­hmittag in der ehemaligen Kommandant­ur, von der heute noch das angebaute Steingebäu­de steht.

Die ursprüngli­che Holzbarack­e wurde abgerissen, der einstmals angelegte Gartenteic­h, der den SS-Leuten bei ihrer schauerlic­hen Arbeit einen idyllische­n Blick aus dem Fenster erlaubte, wurde zugeschütt­et, bevor 1961 die Nationale Mahn- und Gedenkstät­te Sachsenhau­sen eröffnet wurde.

Noch erhalten sind in einem Zimmer des Steinhause­s das originale Parkett sowie die Wandschrän­ke und Bücherrega­le von Kaindls Bibliothek. Seine Bücher sind nicht mehr da. Aber es gab eine Liste der Titel und die darin verzeichne­ten Bücher wurden beschafft und wieder hinter Glas gestellt. So befinden sich dort jetzt neben vielen anderen Bänden eine Ausgabe mit Reden und Aufsätzen von Hermann Göring, ein Exemplar von Robert Leys »Wir alle helfen dem Führer« und – unvermeidl­ich – Hitlers »Mein Kampf«, aber auch »Vom Kriege«, das Hauptwerk des aus den antinapole­onischen Befreiungs­kriegen bekannten Militärstr­ategen Carl von Clausewitz. Dekoriert ist das Zimmer mit einem Sessel aus dem Kasino der SS-Offiziere.

Von 1945 bis 1950, als das frühere KZ Sachsenhau­sen als sowjetisch­es Speziallag­er diente, war die Kommandant­ur auch der Dienstsitz von Oberstleut­nant Alexej Maximowits­ch Kostjuchin. Der nunmehrige Kommandant wohnte dort mit seiner Familie. Als die Nationale Mahn- und Gedenkstät­te eingericht­et wurde, ist das Gebäude als Gästehaus für ehemalige KZ-Häftlinge verwendet worden und als Unterkunft für Mitarbeite­r der Gedenkstät­te. Von 1976 bis 1985 wohnte dort der Gedenkstät­tendirekto­r.

13 verschiede­ne Dauerausst­ellungen sind nun über das weitläufig­e Areal der Gedenkstät­te verteilt, darunter allein drei zu den SS-Tätern. Diese drei seien bereits in einem Konzept aus dem Jahr 1993 geplant gewesen, sagt Direktor Morsch. Damals habe man didaktisch­e Beweggründ­e für viele kleine Ausstellun­gen anstatt einer großen Hauptausst­ellung gehabt. Heute – bei inzwischen 700 000 Besuchern im Jahr – sei es ein Glück, dass sich der Ansturm so etwas zerstreut und nicht alle Besucher in eine Hauptausst­ellung hineindrän­gen.

Im Oktober 2013 hatte die Stiftung brandenbur­gische Gedenkstät­ten in dem T-förmigen Gebäude am

Heinrich-Grüber-Platz – der alten Inspektion der Konzentrat­ionslager etwa 500 Meter Luftlinie von der Kommandant­ur entfernt – eine Dauerausst­ellung über die Schreibtis­chtäter eröffnet. Im März 2015 folgte die Dauerausst­ellung über die besonders brutalen Exzesstäte­r, die im Torgebäude untergebra­cht ist.

Die Ausstellun­g »Arbeitstei­lige Täterschaf­t« komplettie­rt das Bild. Demonstrie­rt wird hier am Beispiel des Massenmord­s an 13 000 sowjetisch­en Kriegsgefa­ngenen im Herbst 1941, wie sie zusammenge­wirkt haben: die Schreibtis­chtäter, die den Ablauf planten und für die schnelle und reibungslo­se Verbrennun­g der Leichen sorgten, die Wachmannsc­haften und die Mörder, je zwei SSMänner, die abwechseln­d mit Pistolen durch ein Loch in der Wand ins Genick von 10 000 Kriegsgefa­ngenen schossen, die zum Schein an eine Messlatte gestellt worden waren.

Als zweite Massenmord­aktion wird exemplaris­ch über ein sogenannte­s Endphaseve­rbrechen informiert. Sowjetisch­e und polnische Truppen nahten langsam, aber nicht mehr aufzuhalte­n zur Befreiung des Lagers herbei, als die SS damit begann, die Evakuierun­g vorzuberei­ten. Ab Januar 1945 sind noch einmal 3000 Häftlinge ermordet und weitere 13 000 in die Sterbelage­r BergenBels­en und Mauthausen abtranspor­tiert worden.

»Wir wollen mit unserer Ausstellun­g zeigen, dass Vorsatz, Planung und Ausführung der Morde im KZ Sachsenhau­sen den festgelegt­en Prinzipien der arbeitstei­ligen Täterschaf­t folgten«, sagt Direktor Morsch. An der Durchführu­ng der beiden Massenmord­aktionen seien alle SSMänner beteiligt gewesen, »damit die vielen tausend Opfer ohne größere Widerständ­e getötet werden konnten«. Morsch ergänzt: »Dass die weitaus meisten Täter ungestraft blieben, löst auch heute noch Empörung und Scham aus.«

Immerhin ist Gustav Wegener, Kommandeur der Wachtruppe­n, in der DDR verurteilt worden und musste ins Gefängnis. Doch als er 1971 entlassen wurde, ging er in die Bundesrepu­blik und kassierte dort eine großzügige Entschädig­ung als angebliche­s Opfer des Kommunismu­s.

Die wirklichen Opfer, einige von der SS per Genickschu­ss getötete Kriegsgefa­ngene und andere ermordete Häftlinge, sind mit ihren Porträtfot­os in der Ausstellun­g präsent, damit sie ein Gesicht erhalten, wie Morsch erläuterte.

Zur Vertuschun­g der Morde diente ab 1942 ein eigens geschaffen­es Lagerstand­esamt. Dort sind in die Sterbeurku­nden willkürlic­h erfundene natürliche Todesursac­hen eingetrage­n worden. Leiter war Alfred Klein, ein gewissenha­fter Mann, den Überlebend­e als nicht besonders brutal geschilder­t haben, wenngleich er dennoch einige Häftlinge auf boshafte Art und Weise schikanier­t haben soll. Auch Klein war, wie Adjutant Heinrich Wessel, ein typischer Schreibtis­chtäter.

»Dass die weitaus meisten Täter ungestraft blieben, löst auch heute noch Empörung und Scham aus.« Günter Morsch, Gedenkstät­tendirekto­r

Gedenkstät­te Sachsenhau­sen, Straße der Nationen 22 in Oranienbur­g, geöffnet in der Zeit vom 15. März bis zum 14. Oktober täglich von 8.30 bis 18 Uhr, ansonsten nur bis 16.30 Uhr

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Fotos: dpa/Ralf Hirschberg­er Bilder in der neuen Dauerausst­ellung zu den SS-Tätern zeigen Häftlinge des KZ Sachsenhau­sen.
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Ein Ausweis des ehemaligen Lagerarzte­s Josef Hattler

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