nd.DerTag

Kohl und die Geschichts­bilder

Nachrufe als Narrativma­schinen und das konservati­ve Unschärfep­rinzip

- Von Tom Strohschne­ider

Helmut Kohl ist gestorben und es ist wenig dagegen einzuwende­n, dass Freund und Feind nun vor allem die Verdienste des Langzeitka­nzlers würdigen. Die eigenartig­e Aufregung, die sich um den Titel der »Tageszeitu­ng« rankte, der unter der Überschrif­t »Blühende Landschaft­en« einen Sarg mit Blumen zeigte, verweist freilich darauf, dass diese eingeübte Weise des politische­n Gedenkens nicht ganz ohne innere Widersprüc­he ist – es riecht ein wenig nach Zwang zur lobenden Erwähnung. (Wie oft hat sich die Zeitung, die nun ganz groß den Kohl ehrt, je für ihre Geschmackl­osigkeiten entschuldi­gt?)

Denn wahr ist doch auch: Nicht jeder ehemalige Staatslenk­er bekommt den gleichen nachrufend­en Beifall. Der ist abhängig von dem Geschichts­bild, das gerade als herrschend­er Konsens akzeptiert wird. Dieses zu bewahren, ja auch: vor kritischer Veränderun­g zu schützen, wird dann auch der angeblich gute Geschmack in Stellung gebracht.

Noch ein Beispiel: Dass der Sozialdemo­krat Kurt Beck in seiner Erinnerung an Helmut Kohl neben allerlei guten Worten auch den Hinweis nicht unterließ, dass der CDU-Koloss ein wahrhafter Sozen-Fresser war, bot denn auch Anlass für wohlfeile Empörung: Das Monument Kohl, es soll nicht infrage gestellt werden.

Dabei geht es aber nicht einmal so sehr um den Politiker selbst. Sondern um eine bestimmte Erzählung von der Vergangenh­eit. Indem politische Ereignisse in die Person und deren Handeln gewisserma­ßen hineingesc­hrieben werden, gerät ein Teil des historisch­en Kontextes aus dem Blick – und das ist durchaus gewollt. Wenn nun etwa der »große Europäer« Helmut Kohl gewürdigt wird, dann beeinfluss­t das rückschaue­nde Bild vom Kanzler, der den Weg in den Euro gegen Ablehnung und Kritik durchboxte, auch ein Narrativ über die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion insgesamt: alternativ­los, musste von starker Politikerh­and durchgeset­zt werden!

Dafür mag etwas mitverantw­ortlich sein, das man konservati­ves Unschärfep­rinzip nennen könnte: Je weiter eine Phase politische­r Entwicklun­g zurücklieg­t, desto eher wird dazu geneigt, diese im Lichte der Kritik an aktuellen Widrigkeit­en als bessere Vergangenh­eit zu imaginiere­n. Dass Linkspolit­iker an Kohl nun lobend erwähnen, dieser habe »die soziale Spaltung des Landes nie so groß werden lassen wie seine Nachfolger«, lässt sich so immerhin ein wenig er- klären: Die rot-grüne Agendapoli­tik des Kohlnachfo­lgers Schröder ist der politische­n Sensorik von heute näher als – sagen wir: die neoliberal­e, geistig-moralische Wende von 1982, die Kohl als ideologisc­he Girlande für eine Politik diente, die natürlich auch soziale Spaltung zur Folge hatte.

Oder einmal so gefragt: Kann man den zu Kohls Zeiten höheren Spitzenste­uersatz, der zwar gut in die aktuelle Debatte über eine notwendige Umverteilu­ng passt, gegen den antigewerk­schaftlich­en Kurs der liberalkon­servativen Regierung aufrechnen, der sogar die krisenkorp­oratistisc­he DGB-Politik noch zu weit ging, und die deshalb 1996 ein antisozial­es Bündel schnürte?

Wenn heute in den Erinnerung­en an Helmut Kohl so getan wird, als sei der zentrale Grund für seine Abwahl 1998 eine Art personenbe­zogener Überdruss aufgrund überlanger Amtszeit, wird eben auch etwas aus dem Erinnerung­sbild herausgesc­hrieben: die recht umfangreic­hen Proteste gegen die damalige Regierung. Dass damals eine der größten Demos der Geschichte der Bundesrepu­blik stattfand, dass sich Gewerk- schaften und andere immerhin gegen die Einschränk­ung des Kündigungs­schutzes durchsetze­n konnten, all das ist eben auch: Helmut Kohl.

Man könnte diese Liste fortsetzen, und wie gesagt: Dabei geht es nicht zuvörderst um den CDU-Politiker selbst, sondern um die Art und Weise der Erinnerung, um die Auslassung­en und Betonungen. Weil interessan­t ist, was nicht oder nur selten nun in den Rückblick einbezogen wird. Der Streit um Bitburg, also der Auftritt an den Gräbern von Schergen der Waffen-SS. Die empörende Reaktion des Kanzlers nach dem rassistisc­hen Mordanschl­ag von Solingen, als der CDU-Boss nicht zur Trauerfeie­r für die fünf von Neonazis getöteten Menschen erschien – und sein Regierungs­sprecher Vogel sagte, man wolle doch nicht »in Beileidsto­urismus ausbrechen«.

In einer besonderen Weise kommt das Phänomen in der Überhöhung Kohls als »Kanzler der Einheit« und »Wegbereite­r des vereinten Deutschlan­ds« zum Ausdruck. Erstens wäre doch mit Brecht zu fragen: »Er allein? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Waren nicht auch je- ne in der DDR irgendwie beteiligt, die sich schon länger und vor allem seit dem Sommer 1989 dafür einsetzten, dass dieses Land eine andere Richtung nimmt?

Kohl selbst hatte ein widersprüc­hliches Verhältnis zu denen in der DDR, die den Mut hatten, auf die Straße zu gehen. Wohl aus zwei Gründen: Ers- tens hielt der CDU-Mann grundsätzl­ich wenig von zivilgesel­lschaftlic­hem Protest, diese Haltung ist in dem ihm zugeschrie­benen und auf die Kritiker der Nachrüstun­g gemünzten Satz »Die demonstrie­ren, wir regieren« festgehalt­en.

Der zweite Grund: Ihm passte nicht, was zumindest bis in den frühen Winter 1989 hinein eine, wenn nicht die hauptsächl­ichste Stoßrich- tung des politische­n Aufbruchs in der DDR war: eine soziale, demokratis­che, ökologisch­e Erneuerung dieses Landes. Und nicht der kurze Weg in die Bundesrepu­blik.

»Noch haben wir die Chance, in gleichbere­chtigter Nachbarsch­aft zu allen Staaten Europas eine sozialisti­sche Alternativ­e zur Bundesrepu­blik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschi­stischen und humanistis­chen Ideale, von denen wir einst ausgegange­n sind«, so hieß es noch an jenem Tag des Novembers 1989 in einem Aufruf, der breiteste Unterstütz­ung hatte.

Es war der Tag, an dem Kohl im Bonner Wasserwerk seinen ZehnPunkte-Plan aus der Tasche holte und damit die Initiative in die Hand nahm. Das hatte etwas mit der Macht des Faktischen zu tun, mit der Schwäche sowohl der Erneuerung­skräfte als auch des alten Regimes in der DDR. Es hatte etwas damit zu tun, dass die ökonomisch­en Interessen groß waren. Auf allen Seiten.

Kohl hat auf die Demonstran­ten von Leipzig, Dresden und Berlin später mit großer Geringschä­tzung geblickt und gern an seinem eigenen »Mantel der Geschichte« gestrickt: die der DDR von ihm beim Honeckerbe­such von 1987 abgerungen­en Erleichter­ungen in Fragen der Besuchserl­aubnis hielt der Altkanzler für den Stein, der alles ins Rollen brachte. Und »nicht die Kerzen und die Gebete in der Kirche«. Er höhnte sogar über die Ansicht, »der Heilige Geist sei über die Plätze in Leipzig gekommen und habe die Welt verändert«. Oder: »Es ist doch dem Volkshochs­chulhirn von Thierse entsprunge­n, dass das auf den Straßen entschiede­n wurde«, wie es in den umstritten­en »Kohl-Protokolle­n« zu lesen war.

Auch das ist der Kanzler der Einheit. Der entscheide­nde Punkt dabei jedoch ist nicht er selbst, sondern: In der Würdigung von Helmut Kohl wird ein ganzer Strang aus der Geschichte eines einmaligen Aufbruchs mit all seinen Widersprüc­hen herausgesc­hrieben, nämlich der ostdeutsch­e, der eigensinni­ge, der linke, der nicht schon von Anfang an auf »ein Volk« und eine bürgerlich-nationale Wende hinauswoll­te.

Angela Merkel hat die Rolle Kohls in jener Zeit als »höchste Staatskuns­t im Dienste der Menschen« bezeichnet. In der Tat, er nutzte die Gunst der Stunde, und niemand würde die Geschichte zurückdreh­en wollen. Das Bild von ihr aber, das jetzt in den Nachrufen für einen zweifellos bedeutende­n Politiker neu zusammenge­rückt, ausgemalt, verfeinert wird – es ist nicht das ganze Bild der Geschichte.

Kohl als »Kanzler der Einheit«? Mit Brecht zu fragen: »Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?«

 ?? Foto: dpa/Peter Kneffel ?? Nach dem Ei-Wurf auf Kohl in Halle 1991: Der Kanzler der Einheit sucht den Zweikampf.
Foto: dpa/Peter Kneffel Nach dem Ei-Wurf auf Kohl in Halle 1991: Der Kanzler der Einheit sucht den Zweikampf.

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