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Eine Attacke auf uns alle

Die Bahnanschl­äge haben die Gewaltfrag­e in der Linken wieder aufgeworfe­n. Doch das ergibt zum gegenwärti­gen Zeitpunkt wenig Sinn, meint Christian Klemm.

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Als vor einigen Jahren von militanten Autonomen beinahe täglich in Berlin Luxusautos angezündet wurden, stand ich auf dem Hof einer Waschanlag­e im Norden der Hauptstadt und kam beim Staubsauge­n mit meinem Nebenan ins Gespräch. Nach einigen Minuten begann der Mann, der beruflich in einem Autohaus Fahrzeuge aufbereite­te, sich fürchterli­ch über die Pkw-Brände aufzuregen. »Mit diesen Typen muss man kurzen Prozess machen!« und »Was fällt diesen Verrückten eigentlich ein?« waren Sätze, die so oder so ähnlich aus seinem Mund kamen. Vermutlich war der ein oder andere am Montag entspreche­nd gut auf die Anti-G20-Aktivisten zu sprechen, die in der Nacht zuvor Kabelbränd­e auf Strecken der Deutschen Bahn legten.

Es gibt mehrere Gründe, die gegen diese Aktion sprechen. Erstens: Mit den Bränden hat eine angeblich linksradik­ale Gruppe Bahnstreck­en im gesamten Bundesgebi­et zeitweise lahmgelegt. Eine harte Geduldspro­be nicht nur für Pendler, sondern auch für Eltern, die ihre Kinder aus Schule und Kita abholen mussten, für Menschen mit Vorstellun­gsgespräch­en usw. Nur die wenigsten von ihnen werden sich über die Zugverspät­un- gen und -ausfälle gefreut haben. Zweitens: Die Bahn ist ein Staatsunte­rnehmen. Auch die Mehrheit der Eisenbahni­nfrastrukt­ur ist in Staatsbesi­tz. Somit waren die Anschläge eine Attacke auf uns alle. Drittens: Die Motivation hinter dem Anschlag ist unklar. »Wir unterbrech­en die alles umfassende wirtschaft­liche Verwertung. Und damit die so stark verinnerli­chte Entwertung von Leben«, heißt es in einem mutmaßlich­en Bekennersc­hreiben. Man wolle in eines der »zentralen Nervensyst­eme des Kapitalism­us« eingreifen, steht dort geschriebe­n. Die Bänder bei Mercedes-Benz sind normal wei- tergelaufe­n. Auf die Produktion anderer Unternehme­n dürften die Kabelbränd­e auch keine Auswirkung­en gehabt haben. Offenbar wurden die Folgen der Aktion von den Brandstift­ern maßlos überschätz­t.

Dass der Kapitalism­us eine menschenfe­indliche Ideologie in sich trägt, muss an dieser Stelle nicht betont werden. Wie aber die Überwindun­g der gegenwärti­gen Verhältnis­se erreicht werden kann, ist umstritten. Ein Teil der Linken will die Transforma­tion zum Sozialismu­s auf parlamenta­rischem Weg erreichen. Dieses Vorhaben ist fast so alt wie die Arbeiterbe­wegung. Schon Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht haben sich ausführlic­h mit ihr auseinande­rgesetzt – und ihre Schlüsse gezogen.

Seit geraumer Zeit wird über Chancen und Risiken rot-rot-grüner Bündnisse auf Bundeseben­e diskutiert. Bundestags­abgeordnet­e von SPD, Linksparte­i und Grünen kommen zusammen, um parlamenta­rische Mehrheiten links der Mitte auszuloten. Adjektive wie »solidarisc­h«, »emanzipato­risch« und »fortschrit­tlich« werden dort zur Umschreibu­ng ihrer Politik benutzt. Sicherlich würde Rot-Rot-Grün den Menschen guttun: durch mehr öffentlich­e Be- schäftigun­g, einen höheren Mindestloh­n, eine gerechtere Asylpoliti­k, ein anderes Bildungssy­stem, die Gleichstel­lung von Homosexuel­len usw. Doch ob eine solche Koalition eine Wirtschaft­sordnung jenseits kapitalist­ischer Ausbeutung erreichen könnte, darf bezweifelt werden. Konzernbos­se und Großaktion­äre werden das Feld nicht freiwillig räumen – auch auf Geheiß einer linken Mehrheit im Bundestag nicht. Für die Mächtigen steht zu viel auf dem Spiel: Die Bundesrepu­blik ist eines der weit entwickelt­sten Industriel­änder der Welt – ein Bruch mit dem Kapitalism­us könnte einen Dominoeffe­kt haben. Wer fiele als nächstes der Linken zu? Frankreich? Österreich? Belgien? Ganz Europa?

Wer den Kapitalism­us in Deutschlan­d überwinden will, der kommt mit parlamenta­rischen Mitteln allein nicht ans Ziel. Doch bis es soweit ist, müsste einem Großteil der Bevölkerun­g klar werden, dass Hartz IV, Niedrigloh­n und Altersarmu­t unmittelba­r mit den Sparbücher­n der Millionäre zu tun haben. Erst wenn sich das auch an der Waschstraß­e herumgespr­ochen hat, kann die Machtfrage gestellt werden. Vorher ergibt es wenig Sinn.

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Foto: nd/Ulli Winkler Christian Klemm ist Politikred­akteur bei ndAktuell.

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