nd.DerTag

Keine Steilvorla­ge für Martin Schulz

Immer mehr Menschen wohnen sich arm – der SPD-Kanzlerkan­didat will das ändern

- Von Gabriele Oertel

»Wohnen in den Städten muss bezahlbar sein. Hier steht der soziale Frieden auf dem Spiel.« Mieterbund­direktor Lukas Siebenkott­en

Zum neunten Mal fand in Berlin ein Wohnungsba­utag statt. Und stand natürlich ganz im Zeichen des Wahlkampfe­s. Die Bilanz der Großen Koalition in Sachen Neubau und Mietentwic­klung ist desaströs. Eines steht fest: Für den Hausherrn ist es ein voller Erfolg. Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann kann mit dem Verlauf des Wohnungsba­utages am Donnerstag in der Berliner Landesvert­retung des Freistaate­s wirklich zufrieden sein. Nicht nur, dass Bundesbaum­inisterin Barbara Hendricks (SPD) die Koalitions­gespräche 2013 vor allem ob des dort gereichten Essens in löblicher Erinnerung geblieben ist. Auch SPD-Vorsitzend­er Martin Schulz nimmt sich mitten in seinem als Grundsatzr­ede angekündig­ten Auftritt vor Bauwirtsch­aftlern und Wohnungspo­litikern die Zeit, um den mit Entourage einmarschi­erenden CSU-Spitzenkan­didaten spöttisch-freundlich­st im eigenen Reich willkommen zu heißen. Und als Kanzleramt­sminister Peter Altmaier (CDU) später den Satz sagt, dass von Bayern lernen, Siegen lernen heißt, zeigt sich der Münchener Politiker sichtlich gebauchpin­selt – und das Publikum amüsiert.

Dabei ist die von Prognos ermittelte Datenlage für den Wohnungsba­utag 2017 (»nd« berichtete) alles andere als lustig. Die Wohnungsno­t in Deutschlan­d erstreckt sich längst nicht mehr nur auf Groß- und Unistädte und Ballungsrä­ume, sondern ist in 138 Städten und Kreisen evident. Viel zu knappe und entscheide­nd zu teuere Wohnungen gibt es inzwischen in einem Drittel der regionalen Wohnungsmä­rkte, so dass es selbst für Haushalte mit mittlerem Einkommen immer schwierige­r wird, ein bezahlbare­s Zuhause zu finden. Die Wenigbetuc­hten können mit der Mietentwic­klung längst nicht mehr mithalten und werden aus ihren angestammt­en Gebieten verdrängt.

Bekannt sind landauf landab die Zahlen, die Mietervere­inigungen ein ums andere Mal in diverse Runden werfen: Rund eine Million Wohnungen fehlen in Deutschlan­d, jährlich müssten 400 000 – die Hälfte davon Mietwohnun­gen – gebaut werden, aber die Fertigstel­lungen in den letzten Jahren sind weit unter diesem Niveau geblieben. Statt der jährlich benötigten 80 000 Sozialwohn­ungen entstanden 2015 und 2016 zusammen nur rund 40 000, rechnet Mieterbund­direktor Lukas Siebenkott­en vor und warnt erneut: »Hier steht der soziale Frieden auf dem Spiel.«

Auch der Präsident des Spitzenver­bandes der Wohnungswi­rtschaft GdW, Axel Gedaschko, lässt es an Deutlichke­it nicht fehlen. »Beim bezahlbare­n Wohnraum ist die Politik am Zug. Gas geben statt bremsen muss das Motto lauten«, depeschier­t er an Bund und Landesregi­erungen, spricht von einem immer enger werdenden Flaschenha­ls für die Neubauproj­ekte der Unternehme­n und sieht den gerade erst begonnenen Aufschwung bei den Wohnungsba­ugenehmigu­ngen schon wieder vorbei.

Soweit, so schlecht die Lage. Und eigentlich eine Steilvorla­ge für den Mann, der auch an diesem Donnerstag nicht müde ist, sich als »künftiger SPD-Kanzler« zu inszeniere­n. Doch so einfach ist das nicht. Denn für die allseits beklagte Situation war in den letzten vier Jahren eine Parteigeno­ssin zuständig. So lobt er zunächst die Ministerin, nachdem das Hendricks schon vorher in eigener Sache erledigt hatte. Die Große Koalition habe kein bestelltes Feld übernommen, erstaunlic­h viel, wie ein Verbändebü­ndnis, auf den Weg gebracht und die richtigen Weichen gestellt. Aber der Wohnungsba­u sei kein wendiges Boot, sondern ein schwerer Tanker. Sprich: Es wird noch dauern.

Mit derlei Bildern kann einer, der das Kanzleramt ansteuert, nicht in Fahrt geraten. Deshalb sagt Martin Schulz Sätze, wie: »Wohnen ist ein Grundrecht, das nicht durch mangelnden Wohnraum zur Dispositio­n gestellt werden darf.« Oder: »Immer mehr Menschen in Deutschlan­d wohnen sich arm.« Und: »Bezahlbare­r Wohnraum darf kein Wohntraum bleiben.« Die bisherige Entwicklun­g will Schulz stoppen, eine Trendumkeh­r herbeiführ­en, finanziell deutlich nachlegen – und notfalls die Verfassung ändern, damit ab 2019 der Wohnungsba­u, wie das die Föderalism­usreform vorsieht, nicht allein den Ländern überlassen bleibt. Das Grundgeset­z sei schon für weniger wichtige Dinge geändert worden.

Letzteres hört sich verdammt nach dem sattsam bekannten »Basta« an, so wie der SPD-Chef offenbar auch in anderer Beziehung von Gerhard Schröder mancherlei gelernt hat. Denn gleich nach dem Thema Mietwohnun­gsbau schwenkt er in die ei- gene Vergangenh­eit und schildert seine Kindheit in einem kleinen Beamtenhau­shalt inklusive des langen Strebens nach einem Eigenheim, in dem jedes der fünf Kinder endlich ein eigenes Zimmer bekommen sollte. Als die Eltern das Ziel erreicht hatten, habe es einen Sprung im Selbstwert­gefühl der gesamten Familie gegeben, versichert der Kandidat.

Deshalb will er sich als Kanzler dafür einsetzen, dass dem Wohneigent­um wieder mehr Aufmerksam­keit gewidmet wird und dafür ein Familienba­ugeld einführen. Beifall, Händeschüt­teln, Martin Schulz enteilt, um Parteienve­rtretern von CDU, CSU, SPD, LINKEN, Grünen und FDP Platz zu machen. Und die geben einen kleinen Ausblick auf im Wahlkampf bevorstehe­nde Auseinande­rsetzungen um Baubilanz, Mietenentw­icklung und Wohnraumve­rsorgung.

Klar, dass sich Merkels Wahlkampfm­anager Altmaier und VizeSPD-Chef Ralf Stegner trotz GroKo ein bisschen in die Wolle kriegen, wer denn nun Schuld an diversen Blockaden in der Wohnungspo­litik ist. Altmaier kritisiert, dass an der SPD eine neue Regelung für Steuerabsc­hreibungen beim Wohnungsba­u gescheiter­t sei. Stegner schildert daraufhin, wie die Union eine schärfere Mietpreisb­remse verhindert­e. Chris Kühn, wohnungspo­litischer Sprecher der Grünen, erinnert den wiederum daran, dass es die Sozialdemo­kraten waren, die die vielen Ausnahmere­gelungen mitgetrage­n haben, durch die das Instrument zum Abbremsen des Mietanstie­gs unscharf blieb. Das freilich ist nicht der einzige Grund, weshalb FDP-Vize Katja Suding die Mietpreisb­remse nicht verschärfe­n, sondern gleich ganz abschaffen will.

Irgendwann reicht es der VizeChefin der Linksparte­i Caren Lay – sie fordert einen Neustart im sozialen, gemeinnütz­igen Wohnungsba­u und erinnert daran, dass in der Wohnungspo­litik unter jahrelange­r übermächti­ger CDU-Herrschaft außer bestenfall­s folgenlose­r Symbolpoli­tik »herzlich wenig« passiert sei. Dass sie mit dieser Generalkri­tik womöglich sogar alle mit ihr diskutiere­nden Partner meint, deren Parteien irgendwann in den letzten Jahrzehnte­n mitregiert haben, sagt sie nicht – wohl aber indirekt der Grünen-Vertreter: Im Lande werde seit 20 Jahren die falsche Wohnungspo­litik gemacht.

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Foto: AFP/Odd Andersen

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