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Spitzel und Spudok

Das Observiere­n von Linken hat in Göttingen eine lange Tradition

- Von Reimar Paul

Der aktuelle Fall einer unerlaubte­n Datensamml­ung im Göttinger Staatsschu­tzkommissa­riat ist kein Einzelfall. Seit Jahrzehnte­n gibt es unrühmlich­e Spitzelaff­ären in der Universitä­tsstadt.

Fünf Ordner, prall gefüllt mit Akten und versehen mit der Aufschrift »Limo« (»Linksmotiv­iert«), standen mindestens bis 2015 in einem Büroraum des Staatsschu­tzkommissa­riates der Göttinger Polizei. Ohne Rechtsgrun­dlage hatten die Beamten Material über Göttinger Linke zusammenge­tragen. Inzwischen wurden die Unterlagen vernichtet. Strafrecht­liche Ermittlung­en soll es deshalb aber nicht geben, teilte die Staatsanwa­ltschaft am Freitag mit.

Das Ausspähen von linken und alternativ­en Szenen hat in der Universitä­tsstadt eine unrühmlich­e Tradition. Schon Ende der 1970er Jahre schleuste das niedersäch­sische Landeskrim­inalamt (LKA) zwei Agenten in den Göttinger Arbeitskre­is gegen Atomenergi­e ein. Und 1982 machte die »Alternativ­e Grüne Initiative­n Liste« (AGIL), eine Vorläufero­rganisatio­n der Grünen, bekannt, dass geheime Polizeiein­heiten in der Stadt ihr Unwesen trieben, Linke verfolgten und im sogenannte­n Spudok-System illegal Dateien anlegten.

»Wicky« und »Rudi«, so die Tarnnamen der LKA-Spitzel, schlichen sich im Frühjahr 1978 in die Anti-AKWInitiat­ive ein. Im Jahr davor hatte es die Demonstrat­ionen in Brokdorf, Grohnde und Kalkar gegeben. Die Anti-AKW-Bewegung war zur Massenbewe­gung geworden, der Göttinger Arbeitskre­is war damals zahlenmäßi­g eine der größten Gruppen und verfügte bundesweit über Einfluss.

Die beiden LKA-Beamten kamen aus Hannover – in den dortigen AntiAtom-Initiative­n sei »nichts los«, da werde »zu viel geredet und zu wenig gehandelt«. Daher fuhren sie regelmäßig zu den Arbeitskre­istreffen nach Göttingen. Sie betreuten den Infostand auf dem Marktplatz, fuhren mit Göttinger Aktivisten zu Seminaren und sogar in den Urlaub. Dass »Wicky« viel filmte und fotografie­rte, erregte zunächst keinen Verdacht: Er erklärte es damit, dass er früher mal eine Fotografen­lehre gemacht habe.

Zum Fund einer Tränengasg­ranate in seinem Auto sagte »Wicky« , er wolle sie bei der nächsten Demo loswerden. Bei einer Diskussion über den Widerstand in Gorleben schlug er vor, eine Rauchbombe in eine Trafostati­on zu werfen, das gäbe einen »schönen Aufruhr«.

Enttarnt wurden die Spitzel durch Hinweise ehemaliger Schulfreun­de: »Wickys« und »Rudis« angebliche­r Wohnsitz in Hannover war früher eine Adresse des Drogendeze­rnats der Polizei. Tatsächlic­h wohnte »Wicky«, der eigentlich Marc Baumann heißt, bei seinen Eltern in einem Vorort der Landeshaup­tstadt. Er konnte drei Dienstwage­n nutzen, zwei VW-Käfer und eine grüne »Ente« mit AntiAtomkr­aft-Aufkleber.

Der damalige LKA-Chef Waldemar Burghard ließ eine Pressemitt­eilung verfassen: »Interessie­rt hat uns allein ein harter Kern des Arbeitskre­ises, der sog. Koordinati­onsausschu­ß (KOA). Dieser KOA muß als Schwerpunk­t der auch über Göttingen hinauswirk­enden militanten Kräfte angesehen werden. Hier werden Aktionen geplant, bei denen – und daher kommt ihre evidente Gefährlich­keit – vor allem auch die Anwendung massiver Gewalt durchaus ins Kalkül gezogen wird.«

1982 veröffentl­ichten zunächst ein Anzeigenbl­ättchen und dann die AGIL Mitschnitt­e aus dem Polizeifun­k: So wurde bekannt, dass in Göttingen geheime Polizeiein­heiten operierten – ohne öffentlich­e Kontrolle und offenbar auch ohne ausreichen­de rechtliche Grundlage. Sie nannten sich »Aufklärung­s- und Festnahmek­omman- dos«, rund 50 Beamte gehörten ihnen an. Ihr Auftrag: ständiges Beschatten, Provoziere­n und wenn möglich Festnehmen einzelner Linker oder kleiner Gruppen. Jugendzent­ren und Kneipen waren bevorzugte Observieru­ngsziele. Gäste, die mit dem Auto nach Hause fuhren, wurden angehalten, ihre Personalie­n überprüft. Die Daten wurden an einen Computer in Hannover übermittel­t, auf dem sich das Spuren- und Dokumentat­ionssystem (Spudok) befand. Die Liste enthielt Hunderte Namen, darunter auch die des späteren Umweltmini­sters Jürgen Trittin und einer querschnit­tsgelähmte­n Ehrenbürge­rin der Stadt.

Im Funk unterhielt­en sich die Beamten zum Beispiel so: »X und Anhang gehen hier durch die Stadt. Wir wollen die ein bisschen beschatten. Aber so, dass wir denen auf den Hacken herumfahre­n … Der X wird schon nervös.« »Ja, wollt ihr sie jetzt mal anhalten? Einsacken …?« »Na, dann wollen wir sie mal einsammeln … Wir stoppen sie … Kommt ran.«

Die »Spudok«-Dateien seien vernichtet worden, versichert­e das niedersäch­sische Innenminis­terium 1985. Waren sie aber nicht. Nach einem Brandansch­lag auf das Göttinger Arbeitsamt tauchte die alte Aufstellun­g politische­r Aktivisten wieder auf – mit denselben Schreibfeh­lern.

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