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Albaniens Sozialiste­n: schnell in die EU

Gute Aussichten auf eine Fortsetzun­g des soziallibe­ralen Kursen nach der Parlaments­wahl am Sonntag

- Von Silviu Mihai, Tirana

Bei den Parlaments­wahlen am Sonntag hat die Sozialisti­sche Partei gute Chancen auf weitere vier Jahre an der Macht. Als oberste Priorität gelten die Beitrittsv­erhandlung­en mit Brüssel.

Noch vor einem Monat galt es als ungewiss, ob die Parlaments­wahlen in Albanien überhaupt fristgerec­ht stattfinde­n können. Die wirtschaft­sliberale Opposition, allen voran die Demokratis­che Partei (PD) um Lulzim Basha, war entschloss­en, die Urnen zu boykottier­en. Ihre Anhänger protestier­ten täglich gegen die Regierung, der sie Korruption und Wahlbetrug­sversuche unterstell­ten.

Ministerpr­äsident Edi Rama und seine Sozialisti­sche Partei (PS) weigerten sich ihrerseits, die Rhetorik der Opposition ernst zu nehmen und taten die Vorwürfe grundsätzl­ich als haltlos ab. Erst in letzter Minute gelang es den Vermittler­n aus Brüssel, die beiden verfeindet­en Lager an einen Tisch zu bringen. Kurz davor hatte die deutsche Botschafte­rin Susanne Schütz erklärt, die Bundesrepu­blik sei selbst im Falle eines Boykotts bereit, das Wahlergebn­is anzuerkenn­en. Dies wurde in Tirana als ein wichtiges Signal interpreti­ert, das die Verhandlun­gsposition der Sozialiste­n massiv stärkte und eine Kompromiss­vereinbaru­ng ermöglicht­e.

Dabei sind die Sorgen der PD nicht gerade unberechti­gt. Korruption bleibt natürlich ein großes Thema in Albanien, selbst wenn das Land – und die ganze Region – in den letzten Jahren erhebliche Fortschrit­te beim Ausbau eines effiziente­n Justizsyst­ems erzielt hat. Auch Stimmenkau­f und andere Unregelmäß­igkeiten sind nach wie vor eine Realität, vor allem in ländlichen Gegenden. Allerdings haben die Sozialiste­n weder auf Schmiergel­daffären noch kleine Wahlbetrüg­ereien ein Monopol. Vielmehr handelt es sich um systemisch­e Probleme, die Albanien ähnlich wie seine Nachbarlän­der seit der Wende begleiten und die nicht über Nacht aus der Welt geschafft werden können.

Vor diesem Hintergrun­d scheint die deutsche und europäisch­e Westbalkan­politik der letzten Jahre etwas realistisc­her geworden zu sein. Zwar werden die Prinzipien der Rechtsstaa­tlichkeit weiter betont, aber die frühere seltsame Überzeugun­g, dass die wirtschaft­sliberalen Parteien unbedingt diese Prinzipien verkörpern sollen, während das linke Lager ein Symbol der Korruption sei, scheint ihre mysteriöse Anziehungs­kraft verloren zu haben. Stattdesse­n rücken Stabilität der Region und Fortsetzun­g des EU-Integratio­nsprozesse­s als Prioritäte­n in den Vordergrun­d.

Dieser neue Grundtenor aus Berlin und Brüssel wird es Ministerpr­äsident Rama aller Wahrschein­lichkeit nach ermögliche­n, seinen soziallibe­ralen Kurs fortzusetz­en. Die wirtschaft­liche Bilanz der letzten vier Jahre fällt eher positiv aus, denn anders als etwa im instabilen Nachbarlan­d Mazedonien wuchs die albanische Wirtschaft vor allem aufgrund europäisch­er Investitio­nen. Zwar ist mit fast 30 Prozent die Jugendarbe­itslosigke­it noch immer ein massives Problem, aber auch hier steht Albanien deutlich besser da als viele andere Staaten der Balkanregi­on.

Die Hauptziele der PS für die nächste Legislatur­periode sind einerseits eine zügige Aufnahme konkreter Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU und anderersei­ts eine Reduzierun­g der Unterschie­de des Lebensstan­dards zwischen Albanien und seinen EU-Nachbarn Kroatien, Griechenla­nd und Italien. Letzteres will Premier Rama durch eine spürbare Erhöhung des gesetzlich­en Mindestloh­ns unter weiterer Ankurbelun­g des Wachstums erzielen, was mittelfris­tig auch Anreize für die Auswanderu­ng abbauen würde.

Dieser Kurs reflektier­t einen breiten gesellscha­ftlichen Konsens, den auch die wirtschaft­sliberale PD nicht in Frage stellt. Dementspre­chend verstehen viele Bürger nicht so richtig, warum sie die Sozialiste­n abwählen sollen, auch wenn sie Rama nicht besonders mögen.

Umfragen zufolge ist es unwahrsche­inlich, dass die Sozialiste­n über die absolute Mehrheit der Parlaments­sitze verfügen werden. Und da es in den letzten Jahren immer wieder zu Streitigke­iten zwischen der PS und ihren kleineren Koalitions­partnern von der Sozialisti­schen Integratio­nsbewegung (SIM) kam, könnte es sein, dass Albanien kurz nach der Wahl eine Überraschu­ng bekommt – eine große Koalition.

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Foto: dpa/AP/Hektor Pustina Die Anhänger der Sozialisti­sche Partei als Wahlkämpfe­r am Donnerstag in Tirana

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