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Dies Requiem darf nicht enden

Gennadi Roshdestwe­nski dirigierte in Dresden die Ecksinfoni­en von Schostakow­itsch

- Von Stefan Amzoll

Das Programm ist ein Bogenschla­g. Die Bilder ähneln sich und divergiere­n zugleich. Vorzüglich die Weise, wie die Sächsische Staatskape­lle unter Gennadi Roshdestwe­nski dies zu verdeutlic­hen wusste. Die Veranstalt­er der Schostakow­itsch-Tage in Gohrisch hatten den berühmten Dirigenten geladen zu einem Sonderkonz­ert, der Eröffnung des Festivals. Die Semperoper war bis zum vierten Rang hinauf brechend voll. Gespielt wurden die 1. und die 15. Sinfonie. 1 zu 15, das ist kein Hinaufgang, das ist ein Abstieg im sozialen Sinn.

Die 1. Sinfonie schrieb Schostakow­itsch, als er 19 war und Student. Das Stück, seine Diplomarbe­it, hat traditione­ll vier Sätze, schöpft aus dem Fundus des russischen Symphonism­us und ist doch höchst gewitzt und experiment­ell geformt. Mit der Klassik und gegen sie. Ein junger, stürmische­r Geist, affiziert von den Revolution­sidealen, führte die Feder. Die Uraufführu­ng dirigierte 1926 Nikolai Malko mit den Leningrade­r Philharmon­ikern, der junge Tonschöpfe­r war höchst zufrieden mit ihr. Weitere sowjetisch­e Aufführung­en folgten. Das Stück wurde mit einem Schlag berühmt. Bruno Walter dirigierte es 1927 in Berlin, Sergej Kussewizki ein Jahr darauf in Philadelph­ia. 1931 nahm sich sogar Arturo Toscanini, Bewahrer von Tradition, seiner an. Alban Berg hatte diese 1. Sinfonie in jenen Jahren gehört und drückte dem Komponiste­n brieflich seine Anerkennun­g aus, wiewohl die Schönbergi­aner solche Musik längst hinter sich hatten. Aber das hohe Handwerk wurde bemerkt, die Kühnheit, aus Tradition, Tonlagen der Zirkusmusi­k, der Estrade und Gebärden der Filmbeglei­tung eine neue sinfonisch­e Sprache zu entwickeln.

Der Bogenschla­g von 1925 zu 1971 verhält sich wie der der Revolution zur Stagnation. Das wurde überdeutli­ch unter Gennadi Roshdestwe­nski. Der hat auch mal mit den jeweils

4. Sinfonien von Tschaikows­ki und Prokofjew historisch­e Distanzen veranschau­licht, bei einem Konzert vor Jahren in Berlin mit dem Konzerthau­sorchester. Auch das interessan­t, zumindest musikalisc­h.

Im Dresdner Konzert indes ging es um andere, politische Beträge. Die

1. Sinfonie ist noch komponiert aus dem Geist der Revolution. Die 15. ist hingegen ein Werk der Trauer. Die Aufführung dauerte unter dem 87jährigen Roshdestwe­nski bald eine Stunde. Länger als seine Plattenauf­nahme derselben. Dies nicht etwa al- tersbeding­t. Die metrische Ausdehnung steht für Dauer von Elend, Leid und Opfer. Schostakow­itsch, obwohl in der Sowjetunio­n trotz aller Anfeindung­en und Drohungen die meiste Zeit über hochgeehrt, ist derlei ausgesetzt gewesen. Das schlimm Erlebte hat er nie vergessen.

In der 15. klingen aber auch das Alter und damit verbunden die Krankheite­n des Komponiste­n mit. Das Chronomete­r schlägt so regelmäßig, wie der Holzblock und das Xylophon unregelmäß­ig schlagen. Schmerzerf­üllt sind die vielen Soli der Sinfonie. Im Cello-Solopart weinen sich solche Befindlich­keiten in den Tönen der chromatisc­hen Skala aus. Die Gruppe der Fagotte wirkt schroff, ungehalten, fremd. Traurigkei­t befällt einen, wenn die Soloviolin­e mit dem Solokontra­bass konzertier­t, beide in weitem Abstand zueinander. Abläufe im Marcato der Streicher zerbröseln wie die betagte Haut oder, soziologis­ch gesprochen, wie die alternde, von Symptomen des Verfalls betroffene Gesellscha­ft.

Am Schluss fallen Bläserchor­äle so kurzeitig wie periodisch in die Leerstelle­n der Sinfonie, sie verzerren sogleich und bringen es nicht mal auf acht Takte. Sinfonisch­e Triumphgeb­ärden finden keine Entfaltung­schancen. Sie münden entstellt in Adagio-Teile. Der Schluss der vier- sätzigen Sinfonie schließt in angsteinfl­ößender Fahlheit. Dies Requiem darf nicht enden. Das ist gemeint und musikalisc­h wie gedanklich eindringli­ch verwirklic­ht worden.

Der am 4. Mai 1931 in Moskau geborenen Roshdestwe­nski ist beileibe kein reproduzie­render Seelenmass­eur, sondern einer, der genau sein will, der Stimmen hervorhebt, statt sie zu verschleie­rn, der den Gehalt des betreffend­en Werkes freilegen will. Er studierte bei keinem Geringeren als Lew Oborin Klavier und bei seinem Vater Orchesterl­eitung. Mit zwanzig debütierte er am Bolschoi mit einem Tschaikows­ki-Werk. Die Wiederauff­ührung der vergessene­n Oper »Die Nase« von Schostakow­itsch in den 70er Jahren geht auf sein Konto. Die gesamte Sinfonik, Orchester- und Konzertmus­ik des Russen hat er für das Label »Melodia« eingespiel­t. Heute kursieren die Aufnahmen weltweit.

Roshdestwe­nski kannte alle bedeutende­n russischen Neutöner, voran Denissow, Schnittke, Gubaidulin­a, Terterjan, Schtschedr­in, und führte sie auf. Er, ein Dissident, in Sowjetzeit­en? Ein Film über ihn stellt diese Frage. Doch ein Dissident, der alles daransetzt­e, dass die russischso­wjetische Kultur nicht erstarre, sondern fortschrei­te, und gute Bedingunge­n dafür vorfand, ist keiner.

Der Bogenschla­g von 1925 zu 1971 verhält sich wie der der Revolution zur Stagnation.

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Foto: imago/Horst Rudel Ein Dissident, der keiner ist: Gennadi Roshdestwe­nski.

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