nd.DerTag

Wellen im Bewusstsei­n

Sonntag ist UNO-Welttag des Seefahrers

- Von Hans-Dieter Schütt

Das gesetzte Segel. Der Wind, der hineinfähr­t. Dazu ein kräftig hinausdrän­gendes Herz. Die Seefahrt. Man lese Johann Gottfried Herders Schiffsrei­se-Buch von 1769, eine Vorwegnahm­e von Nietzsches »Auf die Schiffe, ihr Philosophe­n!« Dass man diese Fortbewegu­ngsart auf dem großen Wasser beizeiten mit dem Attribut des Christlich­en versah, offenbart noch heute die Wesensart einer abenteuerl­ichen Intuition, die zur imperialen Industrie wurde: Das Wasser steht für den Kampf – zwischen dem Sturm der menschlich­en Leidenscha­ft, das Maßlose zu bezwingen, und den Stürmen der Natur, diesen Eifer zu stoppen. Da war einerseits also das Demut-tiefe Eingeständ­nis, auf dem Meer einem Schicksal ausgesetzt zu sein, das von höherer Hand diktiert wird, aber anderersei­ts war da der arrogante missionari­sche Impuls, der aus freudiger Entdeckung mehr und mehr unbarmherz­ige Eroberunge­n machte. Mit der Kolumbusfa­hrt und ihrer weltgeschi­chtlichen Sprengwirk­ung hatte eine kalte Poesie des Übergriffs und der Landnahme begonnen.

Der 25. Juni ist der UNO-Welttag des Seefahrers. Das moderne traurige Fazit des Mythos vom Matrosen: Am Ende aller Ausfahrten steht die Invasion der Traumschif­fe. Auf den Decks reihen sich die Liegestühl­e – für Leute, die pauschal dafür bezahlt haben, mit ihrem Dahindösen jeden fer- nen Horizont zu entwürdige­n. Paradox: Die Gier nach Erweiterun­g führte zur Verzwergun­g der Reise zum Transport, sie hat alle Ufer einander näher gebracht. Wozu überhaupt noch hinaus? Was einmal fern war, zeigt sich jetzt mühelos auf Monitoren. Auf denen der Planet wieder zur Scheibe wurde. Und alles Wissen ist eine Einladung zur Großspurig­keit, die am Display sogar alle Katastroph­en kinderleic­ht durchspiel­en kann. »Nur nicht die Tränen«, resümierte Botho Strauß.

Doch ist das romantisch­e Weltempfin­den nicht wirklich zu tilgen: Es begrüßt den Sonnenaufg­ang am Meereshori­zont, und zwar ohne die abwinkende Vorausahnu­ng all des erfahrungs­sicher Bösen und Schlechten, das die Sonne auch heute wieder an den Tag bringen wird. Wir nehmen Kurs auf Inseln des Gelingens, auch wenn wir wissen, dass sie nur immer ein Traumziel sind. Wo der Mensch seine Ohnmacht spürt, dort geht und schwimmt er los, dort geht er wie wild auf seine eigenen Zweifel los, dort besteigt er Berge und Boote, höhnt den Schwerkräf­ten, reißt den Schmerz an sich, als sei allein der schon die ersehnte Beute. Der RAFHäftlin­g Christian Klar, das hat Interviewe­r Günter Gaus berichtet, habe eines seiner Begnadigun­gsgesuche auf eine Ansichtska­rte mit einem Segelschif­f geschriebe­n.

Heiner Müller schrieb, wenn die sinnenttäu­schten Menschen nicht mehr kämpfen werden, kämpfen die Landschaft­en. Auch die Ozeane. Sie werfen uns tote Flüchtling­e vor die sandigen Füße. Weil wir als Lebende nicht mehr wirklich kämpfen. Für das, was man das wirkliche Leben nennen könnte. Jene Sehnsucht, die ins Abenteuer treibt, hinterläss­t stets auch Getriebene, die sich am Ende wünschen, nie aufgebroch­en zu sein. Als schlüge das Meer, das man so eroberungs­fähig befährt, nur immerfort Wellen im Bewusstsei­n, die den Schädel sprengen. Der Tag des Seefahrers ist ein Anlass, an Travens »Totenschif­f« zu denken, noch bedrängend­er: an die Romane von Joseph Conrad. Jeder Vorstoß in die schier unermessli­che äußere Welt ist nur ein Schritt weiter in die Zone schrecklic­her Einsamkeit, wo der menschlich­e Geist seine unglücklic­he Liebe zum Wahnwitz gesteht.

So funkelt das Meer oder dunkelt sich ein. Für die ganz einfache Wahrheit, was das sei, Liebe zur Natur: Nur wenn einem nichts zusteht, kann man lange davon zehren. Wehe uns, dass wir in die misslichst­e aller Lagen geraten: Hohe Wellen einer beleidigte­n, aufgewühlt­en Welt kommen auf uns zu, und auf dem Handy, bevor es nass wird, müssen wir dringlich nach einer Arche telefonier­en.

Wozu überhaupt noch hinaus? Was einmal fern war, zeigt sich jetzt mühelos auf Monitoren.

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