Wer hat Angst vor den Cyborgs?
Wie digitale Technologien zum Übergang in eine postkapitalistische Ära beitragen können.
Bei vielen Menschen herrscht eine grundsätzliche Skepsis oder sogar Misstrauen gegenüber neuen digitalen Technologien und ihrer Fähigkeit, in die intimsten Bereiche unseres Lebens vorzustoßen. Fast hat es den Anschein, als wären sie die technologische Entsprechung zum neoliberalen Kapitalismus, dessen Fähigkeit der Kolonisierung und Kommodifizierung unserer Alltagswelten dadurch noch intensiviert wird. Dabei sind die hochkomplexen Technologien für viele, vor allem ältere Menschen, nur schwer zu durchschauen und in ihrer rasanten, sich mitunter fast überschlagenden Entwicklungsgeschwindigkeit kaum zu fassen. Daneben gibt es aber auch viel Begeisterung für die schöne neue digitale Welt, in der Vernetzung und Kommunikation ganz neue Möglichkeiten sozialer Interaktion bieten. Ganz zu schweigen von Hochtechnologieträumen, scheinen doch sich selbst reparierende Nanobots, autonome Fahrzeuge und 3DDrucker gleich ganze Science-Fiction-Realitäten in greifbare Nähe zu rücken. Was wohl auch ein Grund für den derzeitigen Science-FictionBoom in Film und Literatur ist, wobei die verheißungsvollen Optionen und drohenden Schrecken digitaler Wirklichkeiten immer mehr in den Fokus auch aufwendig produzierter Blockbuster in Hollywood rücken.
Jüngstes Beispiel ist die EchtzeitVerfilmung des Anime-Klassikers »Ghost in the shell« mit Scarlett Johansson. Spektakuläre Bilder der kämpfenden Cyborg-Agentin auf Großbildwerbetafeln in unseren Großstädten ähneln den im Film vorkommenden gigantischen digitalen Werbebotschaften in der Tokioter Skyline. Realität und Fiktion vermischen sich auf verstörende Weise. Dabei ist die Neubearbeitung des Stoffs in »Ghost in the shell« überaus interessant und aussagekräftig für derzeitige gesellschaftliche Diskurse.
Es geht in dem Film um eine weibliche Cyborg-Polizistin, die in einem futuristischen Tokioter Großstadtmoloch gegen einen Mörder ermittelt, der sich in die Gehirne seiner Op- fer hackt, sie manipuliert und für sich morden lässt. Wie sich herausstellt, ist der »Puppetmaster« eine im Netz entstandene selbstständige Intelligenz, die nach komplexen Ermittlungen und der Aufdeckung von Intrigen innerhalb der Sicherheitsdienste schließlich der Cyborg-Polizistin anbietet, sich mit ihr zu verschmelzen und als neuartiges, kollektives Netzwerkwesen zu existieren. Genau diese solidarische Offerte akzeptiert die Cyborg-Polizistin in dem 1995 entstandenen japanischen Anime-KultFilm, der als Vorlage dient. In der aktuellen Hollywood-Variante verweigert sich die von Scarlett Johansson gespielte Cyborg-Polizistin in der Schlussszene dieser Verschmelzung, die eine Überwindung ihrer eigenen Individualität zugunsten einer neuartigen kollektiven Lebensform bedeuten würde. Der revolutionäre Charakter des Animes von 1995, der eine Existenz jenseits einer individualisierten Lebensform imaginiert und den weiblichen Cyborg ebenso wie den »Puppetmaster« aus dem Joch seiner sicherheitsbehördlichen Struktur befreit, wird in dem Blockbuster komplett umgedreht und konterkariert. Hollywood hält stramm das Banner des westlichen Individualismus und der im liberalen Weltbild eingeschriebenen individuellen Entscheidungsfreiheit hoch.
Eine im Netz entstandene eigenständige Intelligenz als individualisiertes und anthropomorphes Wesen darzustellen, ist immer wieder in den derzeitige Narrativen und Diskursen anzutreffen. Das betont der Medientheoretiker Matteo Pasquinelli in einem Aufsatz in dem kürzlich erschienenen Sammelband »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen«, der sich mit den Ambivalenzen kybernetischer und digitaler Technologien aus emanzipatorischer Sicht auseinandersetzt. »Maschinelle Intelligenz ist nicht anthropomorph, sondern soziomorph: Sie imitiert und speist sich nicht aus individuellen, sondern aus kollektiven gesellschaftlichen Strukturen«, so Pasquinelli. Was das im schlimmsten Fall bedeuten kann, führte unfreiwillig Microsoft im März 2016 vor, als der Konzern zu Werbezwecken einen selbstständigen Chatbot auf die Twittergemeinde losließ, der innerhalb weniger Stunden zum Rassisten und Sexisten mutierte. In den von Menschen programmierten Algorithmen und durch die Interaktion im Netz sedimentierten sich in der künstlichen Intelligenz – soweit ein Kurznachrichten schreibender Roboter das überhaupt ist – jene Vorurteile und Ausschlussmechanismen, die in der Gesellschaft vorherrschen und sich in der digital gespeisten Intelligenz widerspiegeln. Das bedeutet, die Entstehung einer kollektiven, soziomorphen Intelligenz wird von den gesellschaftlichen Verhältnissen mitgeformt. Im utopisch-fiktionalen Entwurf, wie in dem japanischen Anime von 1995, kann daraus eine sich aus Herrschaftsverhältnissen befreiende kollektive Lebensform entstehen, die ihre Individualität überwindet.
Heute herrscht dagegen ein Narrativ vor, das im philosophischen Überbau des Liberalismus fest eingeschrieben ist und aus dieser Zwangsjacke nicht herauskommt. Künstliche Intelligenzen, wie schon Skynet in dem Klassiker »Terminator« (1984) oder der weibliche Roboter in »Ex Machina« (2015) werden als Bedrohung dargestellt. Dass soziomorph-kollektiv entstandene Wesen nicht automatisch die Welt beherrschen wollen, ist mit dem liberalen Weltbild nicht kompatibel. Die revolutionären Möglichkeiten einer neuen kollektiven Lebensform werden schlicht ignoriert. Insofern wird im kulturindustriellen Diskurs um Cyborgs mehr herrschaftsaffirmative Ideologie vermittelt, als es im ersten Moment den Anschein hat.
Aber die Vorstellung, im vernetzten Datenbetrieb könne plötzlich eine eigenständige Intelligenz, ein autonomes Bewusstsein entstehen, das unabhängig von seinen Programmierern, also von Menschen agiert, ist auch wichtiger Bezugspunkt für zahlreiche Theoretiker der sogenannten kalifornischen Ideologie. Der von vielen Wissenschaftlern und Theoretikern erwartete Quantensprung wird als Singularität bezeichnet und von einigen so sehr gefürchtet wie von anderen herbeigesehnt. Wobei die technophile Haltung hier keineswegs eine emanzipatorische Perspektive bedeutet. Im Gegenteil. Ray Kurzweil, der technische Entwicklungsleiter von Google, geht mit der Idee einer plötzlich entstehenden Singularität seit Jahren hausieren. Dahinter steckt natürlich auch der Anspruch, dass der Big-Data-Fluss, den Google so kompetent inwertsetzt, eigentlich Teil einer technologischen Evolution ist, an deren Ende die Unsterblichkeit des Menschen steht, hoffen doch die sogenannten Transhumanisten darauf, eines Tages das Bewusstsein oder den Geist eines Menschen auf einen Speicher hochladen und verewigen zu können. Auch hier bleibt die anthropomorphe Perspektive unangetastet. In Hollywood wurde dies unlängst als Dystopie mit Johnny Depp in dem Film »Transcendence« (2015) in Szene gesetzt. Und auch hier steht die anthropomorphe Figur im Zentrum der Handlung als böse, nach der Weltherrschaft strebende Bedrohung. Wenn auch einige Wissenschaftler immer wieder vor den drohenden Gefahren warnen, einige wenige gar ein Ende der Menschheit befürchten, dominiert in der kalifornischen Ideologie ein positiv besetzter Technikdeterminismus, der sich als technologieaffine Fortschreibung der Aufklärung versteht.
Technologischer Fortschritt wird in der kalifornischen Ideologie, die etwas platt die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Digitalisierung betont und in den 1990er Jahren ihren Ausgang hat, zu einem fast schon religiös aufgeladenen Fetisch. Auch wenn sich die kalifornische Ideologie aus dem subkulturellen Sumpf der PostHippie-Ära entwickelte und der Personal Computer in seiner Entstehungszeit Teil einer selbstorganisierten, in linken Kreisen populären »Do it yourself«-Kultur war, ist sie heute fest im Horizont neoliberaler Wertschöpfungsketten angekommen. Symptomatisch dafür stehen Personen aus dem Silicon Valley wie der Start-up-Finanzier und Pay-Pal- Gründer Peter Thiel, der ebenso Donald Trump wie der Tea Party nahe steht und immer wieder gerne betont, dass Demokratie und Freiheit keine kompatiblen Werte seien. Auch Thiel gehört zu jenen Apologeten, die in der Digitalisierung die Zukunft eines krisensicheren Kapitalismus sehen und »die Welt zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus« machen wollen. Ganz ähnlich äußerte sich schon Mitte der 1990er Jahre Bill Gates, der in der Informationstechnologie einen Garanten für einen »reibungslosen Kapitalismus« sieht.
Die technologischen Möglichkeiten von Digitalisierung und kybernetischen Steuerungssystemen inspirieren aber nicht nur die Vorstellungen des medial derzeit gebetsmühlenartig heruntergeleierten bundesrepublikanischen Standortnationalismus à la Industrie 4.0 und die Ideologie eines krisenfesten autoritären Neoliberalismus. Auch von herrschaftskritischer und antikapitalistischer Seite wird immer häufiger auf die Optionen digitaler Technologien rekurriert als Vorbedingung für den Übergang in eine postkapitalistische Ära. Die Vorstellung eines »Fully Automated Luxury Communism« macht nicht nur als Twitter-Hashtag die Runde. Mit den Akzelerationisten ist in den vergangenen Jahren eine linke Theorie auf den Plan getreten, die sich vor allem in bürgerlichen Feuilletons größter Beliebtheit erfreut, in linksradikalen Kreisen aber eher skeptisch beäugt wird. Der technologischen Entwicklung gelte es vorurteilsfrei zu begegnen. Sie sei vielmehr Voraussetzung für eine postkapitalistische Transformation. Dementsprechend gelte es, die neoliberale Hegemonie infrage zu stellen und auf überkommene »folkpolitische« Konzepte, wie sie die Bewegungslinke von den Autonomen bis zu Occupy praktiziere, zu verzichten. Aber auch der Sachbuchbestseller »Postkapitalismus« des britischen ExTrotzkisten und Journalisten Paul Mason, der ähnlich wie Jeremy Rifkin in der digitalen Produktion einen Wertverfall von Ware und Lohnarbeit und letztlich die innere logische
Schranke des Kapitalismus sieht, wurde in den Feuilletons breit diskutiert. Digitaler Antikapitalismus scheint en vogue zu sein.
In den linken Auseinandersetzungen mit Kybernetik und Digitalität geht es immer wieder um die zentrale Frage, inwieweit unsere heutige digitale Technologie von ihrer ganzen kapitalistischen Entwicklungsgeschichte her überhaupt für emanzipatorische Zwecke im Sinn einer Überwindung des Kapitalismus nutzbar gemacht werden kann. Für die Akzelerationisten und andere technophile Linke spielt deshalb das Cybersyn-Projekt, mit dem die AllendeRegierung im Chile der frühen 1970er Jahre Arbeitsprozesse kybernetisch steuern und einen blockfreien Sozialismus mit seinerzeit modernen digitalen Mitteln umsetzen wollte, eine so große Rolle und dient immer wieder als Bezugspunkt. Wobei gerade in der Kybernetik keineswegs per se eine kapitalistische Logik vorherrscht. Das betont der Soziologe Simon Schaupp in seinem Aufsatz in dem oben erwähnten Sammelband »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutio- nen«: »Stattdessen diente das kybernetische Prinzip der Selbstorganisation immer wieder als Inspirationsquelle für Politiken, die statt einer Steigerung der Profitabilität beispielsweise die Demokratisierung der Ökonomie im Sinne hatten.«
Im innovationsfreudigen Kapitalismus und den sich überschlagenden Entwicklungen im Digitalbereich entstehen immer wieder zahlreiche Bruchlinien, die bisherige Gewissheiten ungültig werden lassen und feste Normen außer Kraft setzen. Neue Räume zum subversiven Unterlaufen der Herrschaft können im Sinn eines kapitalismuskritischen Projekts genutzt werden. Diesen Aspekt betonte schon Mitte der 1980er Jahre die amerikanische Feministin Donna Haraway in ihrem »Manifest für Cyborgs«, das nach eigenen Angaben »versucht, einen ironischen, politischen Mythos zu entwickeln, der Feminismus, Sozialismus und Materialismus die Treue hält«. Haraways Texte waren schon damals wegweisend und werden heute nicht nur von materialistischen Feministinnen wieder vermehrt rezipiert. Der Argument- Verlag hat Haraways Technologie-Essays gerade wieder neu überarbeitet aufgelegt. Für Haraway ist die Cyborg die Fiktion, »an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt«. Die Verbindung von Mensch und Maschine ist längst gesellschaftliche Realität. Die Dichotomie Natur versus Kultur gelte es aufzulösen, so Haraway. »Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst.« An diesem Punkt ähnelt Haraways Ansatz durchaus der im Anime »Ghost in the shell« fiktional und narrativ durchdeklinierten Erzeugung einer neuen sozialen Lebensform, die jenseits der Logiken liberaler oder neoliberaler Individualität liegt. In der Science-Fiction sieht Haraway sowieso ein Medium, um Erkundungen möglicher Welten durchzuführen. Wobei Hollywood in seinem herrschaftsaffirmativen Hochglanzkino keine substanziellen Beiträge für eine emanzipatorische Perspektive bietet.
Äußerst faszinierende Erkundungen, die vor allem auch kyberneti- sche und digitale Technologien und ihre gesellschaftlichen Transformationskräfte berücksichtigen, bietet aber das Werk des Schriftstellers Dietmar Dath. In seinen zuletzt erschienenen opulenten Science-Fiction-Romanen »Pulsarnacht« (2012), »Feldevaye« (2014) und »Venus siegt« (2016 erweiterte Fassung) tummeln sich zahlreiche Roboter, Cyborgs und künstliche Intelligenzen. Menschen und Maschinen werden auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, allwissende lebendige digitale Gesetze regeln das Zusammenleben, allenthalben sind Hybride und Cyborgs anzutreffen, die sich selbstbestimmt verändern oder auch verbessern, im schlimmsten Fall aber auch zwangsweise transformiert werden. Auch wenn es viele geknechtete Wesen in diesem fantastischen Universum gibt, leben viele Menschen, Roboter, künstliche Intelligenzen und Cyborgs in freier Assoziation und revoltieren gegen das Herrschaftssystem. Roboter und andere nicht-menschliche Wesen sind aber keine Feinde. Im Gegenteil kämpfen sie als Verbündete gegen das scheinbar allmächtige Sys- tem kapitalistischer Wertschöpfung. Das regiert ganz analog zu den jüngsten politischen Entwicklungen des rassistischen und neoreaktionären Rollbacks immer wieder rücksichtslos und autoritär durch. Daths Zukunftsentwürfe stecken ebenso voller konterrevolutionärer Aggression wie sie auch emanzipatorische Momente des kollektiven Aufbegehrens in Szene setzen.
Dabei lässt Dath seinen fiktionalen Geschöpfen die Freiheit, sich zu entscheiden, was sie tun wollen. Wer ein Bewusstsein hat, sei es ein im Netz generierter, sich verselbstständigender Algorithmus oder ein hochhausgroßer fliegender Roboter, kann ebenso herrschaftskritisch agieren wie er auch als brutaler Mörder für das herrschende System politische Gegner exekutieren kann. In »Venus siegt« sind es schließlich Menschen und Maschinen gemeinsam, die mithilfe eines Computervirus gegen das System angehen und die Ordnung außer Kraft setzen. »›Diese Leute, die alles ändern wollen‹, fragte sie, nicht mehr ganz so erschöpft. ›Sind das wirklich so viele?‹ ›Ja.‹ Er nickte. ›Und es werden immer mehr‹«, heißt es vielversprechend in dem Roman. Diese »Leute, die alles ändern wollen« im weitesten Sinn, das sind auch Roboter und Cyborgs – und sie sind Teil der Revolte. In diesem Sinn gilt es, für neue Wesen in dem unübersichtlichen Feld digitaler und kybernetischer Technologien und der damit verbundenen Seinswerdung offen zu sein und sich gegebenenfalls mit ihnen zu verbünden. Das schließt die Veränderung der eigenen Person und ihre cyborgartige Transformation im immer weiter wuchernden Netz digitaler und kybernetischer Codes mit ein. Dietmar Daths fiktionale Texte sollten in diesem Kontext durchaus als substanzielle Beiträge zur laufenden Debatte um Digitalisierung und Kybernetik verstanden werden. Denn Dath spielt in seinen fiktionalen Entwürfen mögliche dystopische und utopische Szenarien durch. Für eine emanzipatorische Perspektive geht es letztlich um die nur schwer zu beantwortende Frage, wie digitale und kybernetische Technologien für einen Übergang in eine andere, nicht kapitalistische Welt nutzbar gemacht oder subversiv unterlaufen werden können. Es gilt, die Augen offen zu halten, die richtigen Fragen zu stellen, statt sich auf Gewissheiten zu verlassen und Erkundungen im Sinn Donna Haraways durchzuführen. Wir sollten besser heute als morgen damit beginnen.