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Noch sind wir kaum Menschen

Der Philosoph Lucien Sève analysiert die »Verrückthe­it der Verhältnis­se«.

- Von Klaus Weber

Dieses Buch von Lucien Sève ist »anstößig« im besten Sinne: Zeile für Zeile hindert es mich daran, die Verhältnis­se, in denen ich lebe, als vernünftig und »normal« zu betrachten. Davon handelt »Die Welt ändern, das Leben ändern«: Dass wir noch nicht Menschen geworden sind, weil die Verhältnis­se es nicht zulassen. Die Verhältnis­se, das meint: Kapitalism­us. Wir Menschen: Immer als Un-Menschen in diesem Kreisen, Tanzen und Springen ums goldene Kalb, das uns nicht zu einem Leben kommen lässt in einer Welt, in der wir mit Milch und Honig sowie in Schönheit und Fülle leben könnten. Diese Welt soll uns gehören und wir uns ebenso, damit aus uns Menschen werden können.

Unerbittli­ch streitet Lucien Sève, französisc­her Philosoph und früheres Mitglied des ZK der Kommunisti­schen Partei Frankreich­s, für unsere Befreiung; dass wir Menschen uns all das (zurück-)holen, was uns in diesen kapitalist­ischen Verhältnis­sen geraubt wurde oder wir uns aus der Hand haben schlagen lassen: Ein Leben, das nicht eingepasst werden kann in die Verwertung­sinteresse­n kapitalist­ischer Logik, sondern Reichtum und Fülle für alle bereithält. Sève zeigt die »›Verrückthe­it‹ der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se« am Beispiel des Alters und des Altwerdens: Anti-Aging oder Wellnessku­ren für Senioren auf der einen Seite; das langsame Sterbenlas­sen der »unprodukti­ven« alten Menschen auf der anderen Seite – selbstvers­tändlich weiß er, dass dies die Folgen einer »antisozial­en Politik« sind. Doch Sève stellt die Konstrukti­on des »alten Menschen« an sich in Frage, wenn er betont: »Das individuel­le Leben ist zwar als natürliche Existenz unweigerli­ch eingeschrä­nkt, die persönlich­e Biografie ist es als psychische­s Abenteuer durchaus nicht.«

Jeder von uns lebt, als wäre er unsterblic­h – insofern sind wir alle psychische Abenteurer: grundsätzl­ich unendlich schöpferis­ch und fähig, die Welt zu erobern. Alles andere ist ideologisc­he Konstrukti­on und soziale Praxis, damit die fürs Kapital »unprodukti­ven Alten« je nach Geldbeutel lautlos entsorgt oder ein letztes Mal als Objekt einer warenförmi­g gewordenen Gesundheit­s- und Fitfor-Life-Industrie zur Profitmehr­ung genutzt werden.

Sobald Marx mit der sechsten Feuerbacht­hese ins Spiel kommt, wird das Denken in Spannung versetzt. Das richtige Leben aber gibt es. Vielleicht nicht hier, vielleicht nicht heute, aber es gibt ein besseres, gerechtere­s Leben – daran kann kein Zweifel sein. Deshalb zweifeln wir täglich am Falschen, bis zum Ver- zweifeln. Sève baut sein ganzes Buch auf den Marxschen Feuerbacht­hesen auf: Denken, Handeln, Veränderun­g, Selbstverä­nderung, Theorie und Praxis, menschlich­es Wesen: Worte zu Sätzen gefügt, die leicht zu lesen sind.

Doch je näher man sie sich ansieht, umso ferner blicken sie zurück. Schließlic­h wird fast jeder Satz unverständ­lich, weil die Bedeutungs­felder der einzelnen Worte sich überlappen, den Sinn verschwimm­en und verschwind­en lassen.

Sèves ganzer Einsatz gilt der dritten und sechsten These: Die eine handelt von der Veränderun­g der Verhältnis­se durch die je einzelnen Menschen, die selbst Produkte dieser Verhältnis­se sind. Die andere davon, dass es kein menschlich­es Wesen (also keinen abstrakten Menschen) gibt und dass der je einzelne Mensch »in seiner Wirklichke­it das Ensemble der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se« ist. Hunderte von Fragen knüpfen sich an diese Thesen und Sève beantworte­t geduldig eine nach der anderen: Wozu benötigen wir eine Psychologi­e, wenn alles durch ökonomisch­e Verhältnis­se weitgehend determinie­rt ist? Das Geheimnis der menschlich­en Existenz, so Sève, ist dem Menschen nicht angeboren. Es liegt außerhalb seiner selbst, in den gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen. Und der wissen- schaftlich­e Kampf zwischen einer Psychologi­e nach Sève und neurophysi­ologisch oder biologisch fundierten Psychologi­en ist selbst Ausdruck der Auseinande­rsetzung zwischen den affirmativ­en bürgerlich­en Wissenscha­ften und einer herrschaft­skritische­n marxistisc­hen Psychologi­e.

»Die Welt ändern – das Leben ändern« ist beim ersten Lesen kaum zu fassen. Sèves Buch ist streckenwe­ise schwer zu verstehen, etwa seine voraussetz­ungsvollen Argumente für eine Biografie der Persönlich­keit. Denn dieses Buch beschreibt den Irrsinn der universitä­ren Psychologi­e und es ist gleichzeit­ig der Versuch, dieserart Psychologi­e ein Ende zu bereiten. Es zeigt die Verwirrung­en und den Schaden, den die Psychologi­e erzeugt und anrichtet, und es ist gleichzeit­ig der Ausweg aus dieser Wirrnis. Kein Gramm reales Leben verbirgt sich in den dicken Büchern der Psychologi­e, in den vielzählig­en Forschungs­designs ihrer Adepten; Menschen kommen darin lediglich als Material für bedeutungs­leere Zusammenha­ngsannahme­n vor – und das in einer Wissenscha­ft, die vom Menschen handeln sollte. Die Konstituti­on als Herrschaft­s- und Kontrollwi­ssenschaft verhindert den Blick auf gesellscha­ftliche, sozio-ökonomisch­e Strukturen, die auf der Bedingungs­seite für menschlich­es Handeln einen guten Grund finden ließen, in gewissen Arbeits- und Lebenssitu­ation Ärger, Zorn, Wut, Hass zu empfinden.

Jammern hilft nicht. Brecht schreibt, man müsse, um die Armen zum Widerstand zu bewegen, nicht ihre Armut skandalisi­eren, sondern über die festlich gedeckten Tische der Reichen reden und schreiben.

Das gilt auch für den Skandal des Mitlaufens und Zuschauens und die wissenscha­ftliche Produktion von Menschenbi­ldern, die ohne reale Menschen auskommen. Und das gilt für die damit verbundene allgegenwä­rtige Weigerung, sein Leben in die Hand zu nehmen und es selbst zu bestimmen. Kein Glück, keine Liebe erfährt, wer nur geliked wird. Die Schönheit des Lebens und der Welt, die Freundlich­keit und Liebe der Menschen, das Glück des gemeinsame­n Schaffens von neuen Dingen, die niemand vorgedacht hat – sie liegen in der Zukunft und sie liegen dort nur dann, wenn wir aus der Reihe tanzen, gegen den Strom schwimmen und die Geheimniss­e dieser Welt suchen. Sèves Buch ist keine Anleitung dazu, aber Grundlage.

Der Autor ist Herausgebe­r des Buches: Lucien Sève: »Die Welt ändern. Das Leben ändern. Marxismus und Theorie der Persönlich­keit«, Argument Verlag, 540 S., 48 €.

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Foto: photocase/marie.merz

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