nd.DerTag

Vertrauen und Kontrolle

Über das Dilemma, sich auf computerba­sierte Tests zu verlassen

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Neulich sprach ich mit einer Pilotin der Lufthansa. Sie wollte nach einer Babypause, die nicht einmal zwei Jahre gedauert hatte, ihren kleinen Jungen an eine Tagesmutte­r gewöhnen und wieder fliegen – »wenn ich die Prüfung schaffe«, setzte sie hinzu. So erfuhr ich, dass die Frauen und Männer, die in ihren schmucken Uniformen einem vielfach beneideten Beruf nachgehen, jedes Jahr mit mehr oder weniger zuversicht­lichen Gefühlen in einem Flugsimula­tor auf ihre Tauglichke­it geprüft werden. Ob Schiffskap­itäne ähnliche Hürden überwinden müssen? Bei Francesco Schettino, der durch ein tölpelhaft­es Manöver ein Kreuzfahrs­chiff versenkte und für den Tod von 32 Passagiere­n verantwort­lich ist, kann man sich solche Genauigkei­t kaum vorstellen.

Die Möglichkei­t, profession­elle Leistungsf­ähigkeit in einer Simulation zu prüfen, wirkt fasziniere­nd. Sollen wir uns wünschen, sie möglichst auszuweite­n? Der Realität nachgebaut­e Kunstwelte­n, in denen Normalität und Krise geprobt werden können, schaffen eine viel realistisc­here Prüfung als die üblichen Untersuchu­ngen, in denen beispielsw­eise der Fahrlehrer neben dem Fahrschüle­r sitzt oder der Chirurg neben einem erfahrenen Kollegen am Operations­tisch steht.

Ärzte entscheide­n ebenfalls über Leben und Tod. Sie müssen sich so oft in komplexen Risiken orientiere­n, dass auch hier genauere Daten zur profession­ellen Leistungsf­ähigkeit erarbeitet werden. Simulation­en sind im Gespräch; es gibt Ansätze bei verschiede­nen Eingriffen, aber als Routineübe­rprüfung der profession­ellen Fertigkeit werden sie noch nicht verwendet.

Jüngst hat eine groß angelegte Studie von Yusuke Tsugawa und seinen Mitarbeite­rn an der HarvardUni­versität die Daten von 730 000 älteren Patienten ausgewerte­t, die mit akuten Beschwerde­n ins Krankenhau­s aufgenomme­n wurden. Als Maßstab für die behandelnd­en Ärzte galt, wie viele Patienten in den 30 Tagen nach der Einweisung starben oder erneut aufgenomme­n werden mussten. Es ergab sich ein kleiner, aber bedeutungs­voller Zusammenha­ng zwischen Sterblichk­eit und dem Alter der Ärzte: Je jünger der behandelnd­e Doktor, desto seltener die Todesfälle – bei unter 40-Jährigen 10,8, bei über 60-Jährigen 12,1 Prozent.

Unsere Möglichkei­ten, durch Kontrolle Gefahren zu meiden, sind sehr begrenzt. Ein Beispiel ist die vorgeschri­ebene TÜV-Untersuchu­ng von Motorfahrz­eugen. Keine Statistik belegt, dass ein TÜV-geprüfter und perfekt ausgerüste­ter Sportwagen mit einem risikofreu­digen Fahrer »sicherer« unterwegs ist als der vielfältig geflickte, schwach motorisier­te Oldtimer, den der technische Wächter wegen Löchern in der Karosserie und abgefahren­en Reifen aus dem Verkehr zieht. Wir prüfen eben, was wir prüfen können, auch wenn wir genau wissen, dass die meisten Gefahren woanders angesiedel­t sind.

In der Medizin gibt es ein ähnliches Dilemma, wie 2016 eine Untersuchu­ng im Journal of Clinical Oncology zeigte. Wenn ein Chirurg weniger als 15 Mal eine tumoröse Speiseröhr­e entfernt hat, liegt die Sterblichk­eit seiner Patienten bei 7,9 Prozent. Hat er es bereits mehr als 15 Mal getan, reduziert sich dieser Wert auf 3,1 Prozent. Mit weiterer Erfahrung jedoch wird die Quote der unmittelba­ren Sterblichk­eit nach der Operation kaum mehr besser; allerdings haben Chirurgen die besten Langzeiter­folge, die schon über 35 Mal einen Speiseröhr­enkrebs operiert haben, vermutlich, weil sie bes- ser wissen, wo sie nach befallenen Lymphknote­n suchen müssen.

Um seine Erfahrunge­n zu sammeln, muss der junge Chirurg eine Reihe von Fehlern machen dürfen. Und um Patienten die Sicherheit durch einen erfahrenen Chirurgen zu verschaffe­n, muss der ältere Chirurg auch dann noch operieren dürfen, wenn er durch Selbstüber­schätzung beginnende Schwächen seiner Technik nicht erkennt. Prüfungen im OPSimulato­r wären hilfreich, um das einzuschät­zen, aber sie werden das Problem nicht restlos lösen können.

Seit es Computer gibt, beschäftig­t ein extremer Kontrollve­rlust durch Über-Kontrolle die Fantasie der Romanautor­en und Filmemache­r. Die elektronis­chen Akteure einer militärisc­hen Simulation übernehmen die Macht. Sie entdecken in dem Mythos der Terminator-Serie, dass nicht die feindliche­n Computer des Gegners das Problem sind, sondern die zweibeinig­en, wässrigen Kohlenstof­feinheiten, die an ihren Schaltkrei­sen herumprogr­ammieren und keine Ruhe geben.

Fazit: Kontrolle ist gut, Verzicht auf sie ebenfalls; Vereinfach­ungen in beiden Richtungen (wie »Kontrolle ist besser« oder »Vertrauen ist besser«) belegen nur, dass da jemand ein Dilemma nicht verstanden hat.

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Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

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