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Der Duft der Blüten

1946 hielt der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker an der Universitä­t Göttingen seine erste Vorlesung zur Philosophi­e und lockte damit Studenten aus allen Fachbereic­hen an.

- Von Konrad Lindner

Für das Sommerseme­ster 1946 kündigte ein junger Professor an der Universitä­t Göttingen unter dem Titel »Die Geschichte der physischen Welt« eine öffentlich­e Vorlesungs­reihe zur Philosophi­e der Natur für Hörer aller Fakultäten an. Er war ein Absolvent der Universitä­t Leipzig. Hatte aber seine Doktorarbe­it (1933) und seine Habilitati­onsschrift (1936) nicht in den Geisteswis­senschafte­n, sondern in den Naturwisse­nschaften angefertig­t. Dennoch trat er als Philosophi­erender ans Katheder, den die Frage umtrieb, was den Menschen zum Menschen macht und inwiefern der Mensch als Teil der Natur zu bestimmen ist.

Die Rede ist von dem Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 bis 2007) aus der Leipziger Schule des Nobelpreis­trägers Werner Heisenberg. Da das Sommerseme­ster am 15. Mai 1946 begann, hat Weizsäcker am Freitag, den 17. Mai, die Einleitung und am 24. Mai das Thema »Rückgang in die Geschichte der Erde« vorgetrage­n. Am 2. August 1946 dürfte er, wenn man dem gedruckten Verzeichni­s folgt, die Reihe mit dem zwölften Vortrag abgeschlos­sen haben, der das Thema hatte: »Der Mensch. Innere Geschichte«.

Weizsäcker erinnerte sich noch ein halbes Jahrhunder­t später: »Der Hörsaal war knall voll. Ich musste immer etwas mühsam über die Beine der auf den Treppen Sitzenden steigen, damit ich bis zu meinem Katheder kam.« Der Zulauf war so groß, dass Weizsäcker seine Vorlesung nicht nur wie geplant am Freitag, sondern immer zweimal in der Woche halten musste.

Mit sicherem Schritt wanderte Weizsäcker vom Blick zum nächtliche­n Sternenhim­mel mit der Milchstraß­e und mit der Frage nach der räumlichen Struktur der Sternsyste­me zur Entstehung­sgeschicht­e der Erde in der achten Vorlesung, in der er das Zusammensp­iel von Gebirgsbil­dung und Vulkanismu­s ebenso behandelte wie die Hypothese der Kontinenta­lverschieb­ung von Alfred Wegener. In der Vorlesung über »Die Erde« am 5. Juli 1946 weckte Weizsäcker das Bewusstsei­n für die Zeitlichke­it unseres Lebensorte­s auf der Oberfläche unseres Planeten, indem er mit dem Wissen des Wissenscha­ftlers, aber auch mit den Sinnen des Wanderers formuliert­e: »Den Duft der Blüten, das Summen der Bienen und den Gesang der Vögel gibt es erst seit etwa 100 Millionen Jahren.«

Den sinnlichen Ausgang von Organismen im Hier und Heute vereinigte Weizsäcker mit dem Lernen zur Artentsteh­ung in Biologie und Paläontolo­gie und führte seine Argumentat­ion dadurch bis in die Philosophi­e hinein, indem er auf der sprachlich­en Ebene einer Lehre des Seienden sich auch Gedanken über das Begriffspa­ar »Gestalt« und »Gestaltent­stehung« machte. Der Vortragend­e legte sprachlich fest: »Ich will unter einer Gestalt ein materielle­s Gebilde verstehen, das sich durch seine räumliche und physikalis­che Beschaffen­heit von seiner Um-

gebung deutlich abhebt. Ein Spiralnebe­l, ein Uranminera­l, ein Einsiedler­krebs, ein Buchstabe an der Tafel sind Gestalten.«

Im nächsten Schritt wurde das Auffinden von Gestalten in das Philosophi­eren über die Geschichte der Natur integriert, denn »Gestalten sind die besten Dokumente der Vergangenh­eit; sie sind Fakten, aus deren bloßem Dasein viele faktische Ereignisse der Vergangenh­eit geschlosse­n werden können«. Während Weizsäcker die Ansicht vertrat, dass der Schluss auf die Vergangenh­eit möglich ist, betonte er entschiede­n, dass man aber »nicht in dersel-

ben Weise aus gegenwärti­gen Gestalten auf die Zukunft schließen kann«.

Ob in Leipzig oder Göttingen, in den deutschen Universitä­ten saßen im Sommerseme­ster 1946 hier wie dort Studenten, die »aus der Verzweiflu­ng des Kriegs in eine neue, ungewisse Hoffnung« zurückgeke­hrt waren, wie Carl Friedrich von Weizsäcker 1991 in der Rückschau formuliert­e. In seinen letzten drei Vorlesunge­n des Kurses im Studium generale behandelte er die Themen »Seele« und »Mensch«. Diese Vorträge bildeten den Höhepunkt im Kurs über die Geschichte der Natur. Weizsäcker war in dem Schlusstei­l seines Kurses bestrebt, in einer Zeit, die im zerstörten Deutschlan­d von sozialen Gefühlen des Sinnverlus­tes, der Schuldbela­denheit sowie der Hoffnungsl­osigkeit geprägt war, als Wissenscha­ftler wie als streitbare­r Protestant geistige Horizonte zu eröffnen.

Einen Schlüssel beim Einlösen dieses Anliegens hatte er während der Gefangensc­haft in Farm Hall bei John Milton in dem Text »Das verlorene Paradies« (1667) gefunden. Weizsäcker imponierte eine Denkhaltun­g, die er im Vorwort von 1991 wie folgt formuliert­e: »Ihr müßt die Schöpfung anschauen, ehe ihr Sündenfall und Erlösung verstehen könnt.« In seiner elften Vorlesung, in der er den Menschen als Naturwesen untersucht­e, formuliert­e er noch einmal, dass »es sinnvoll ist, den Umweg über die Natur zu gehen, wenn die Fragen nach uns selbst uns bedrängen«. Doch in der zwölften und letzten Vorlesung überschrit­t Weizsäcker unter der Überschrif­t »Der Mensch. Innere Geschichte« die naturphilo­sophische Perspektiv­e zur religionsp­hilosophis­chen Frage: Ist in der »Not unserer Zeit« überhaupt noch Liebe möglich?

In diesem Teil seiner Vorlesung kam Weizsäcker zugute, dass er während seines Studiums der Physik und Mathematik in Leipzig auch Lehrverans­taltungen bei dem Religionss­oziologen Joachim Wach besucht hatte, durch den er sowohl in Hegels Geschichts­philosophi­e als auch in asiatische Philosophi­e und Religion eingeführt worden war. Auf die Frage nach der Möglichkei­t der Liebe in Zeiten der Sinnkrise antwortete Weizsäcker am 2. August 1946 zum Ausklang seiner Vorlesung über »Die Geschichte der Natur«: »Aber wenn wir ihre Möglichkei­t einmal erfahren haben, so bleibt in uns das, was Gewissen genannt wird. Wir wissen dann, dass wir ohne die Liebe das Entscheide­nde versäumen.« Zuvor hatte der 34-jährige Gelehrte nicht nur grundsätzl­ich formuliert, sondern auch sich persönlich eingestand­en: »Schuld ist Mangel an Liebe.«

Der Philosophi­estudent Günther Patzig war »sehr beeindruck­t« von der Vorlesung über »Die Geschichte der Natur«. Der Physikstud­ent Manfred Eigen hörte diese und weitere Vorlesunge­n des Honorarpro­fessors und gab in der Rückschau zu Protokoll: »Wir nannten das immer ›Weizsäcker­sche Bibelstund­e‹ oder ›Quantenthe­ologie‹.« Richard von Weizsäcker saß als Jurastuden­t in der Vorlesung und bekräftigt­e noch 2002 im Interview: »Es ging meinem Bruder selbst immer um die Übersicht über die Zusammenhä­nge der verschiede­nen Wissenscha­ftsgebiete. In diesem Sinne war die Göttinger Vorlesung über ›Die Geschichte der Natur‹ doch zweifellos ein Höhepunkt dessen, was an der Universitä­t überhaupt zu empfangen war.«

Der Autor ist Wissenscha­ftsjournal­ist und Philosoph; er lebt in Leipzig.

In den deutschen Universitä­ten saßen in Ost wie West im Sommerseme­ster 1946 Studenten, die »aus der Verzweiflu­ng des Kriegs in eine neue, ungewisse Hoffnung« zurückgeke­hrt waren.

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Foto: Max-Planck-Gesellscha­ft/AMPG. III. Abt., Rep. 111, Nr. 690

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