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Mehr Kontextual­ität, bitte!

Lena Tietgen findet, dass das Studium generale reformiert werden muss

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Über die Jahrhunder­te erwies sich das Studium generale als anpassungs­fähig, bedient es doch den Wunsch nach einer Bildung an sich, die nicht nur zweckorien­tiert ist. Mit der Zeit unterlag es notwendige­n und gesellscha­ftlich bedingten Veränderun­gen. So verlor in der Neuzeit die Kirche Bindungskr­aft, da mit der Aufklärung der selbst denkende und sich selbst bildende Mensch in den Fokus rückte. Zudem erschöpfte sich die Bindung an den theologisc­hen Kanon selbst. Je mehr Bildungsbe­darf bestand, desto mehr Menschen wurden in das Bildungssy­stem einbezogen. Mehr Geister erzeugen mehr Fragen, mehr Ideen; Kanonbildu­ng wurde zunehmend weltlich. Erinnert sei an Wilhelm von Humboldts kritische Gedanken zur Rolle des absolutist­ischen Staats bei der Bildung. Als Wissenscha­ft der Wissenscha­ft wurde dann der Philosophi­e die prägende Erkenntnis zugeschrie­ben. Bis auch diese mit der Vormachtst­ellung des Kapitalism­us an Bindungsmä­chtigkeit verlor. Seitdem kam es zur Ausdiffere­nzierung und Spezialisi­erung von Einzelwiss­enschaften wie zum Beispiel der Soziologie und der Psychologi­e.

In dieser Situation bot Carl Friedrich von Weizsäcker mit seinem Studium generale kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Unterweisu­ng in kontextuel­lem Denken an. Das war revolution­är und beliebt. Trotzdem und trotz Ludwig Wittgenste­in, dem Ideengeber kontextuel­ler Erkenntnis­theorie, sind kontextuel­le Studienkon­zeptionen nach wie vor im deutschen Studienwes­en selten. Dabei ist unsere Welt massiv ausdiffere­nziert. Kanonbildu­ng erschöpft sich erneut, diesmal unsere weltliche, wissenscha­ftliche. Ein Studium generale lediglich als Zusatz eines ansonsten fakultätso­rientierte­n Studiums reicht nicht mehr aus. Erfahrunge­n mit ihm können aber Ideengeber sein.

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