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»Die Welt ist ein Kunstwerk«

Können ästhetisch­e Prinzipien als Leitfaden bei der Suche nach Naturgeset­zen und naturwisse­nschaftlic­hen Theorien dienen?

- Von Martin Koch

Von dem britischen Physiker und Schriftste­ller Charles Percy Snow stammt die oft kolportier­te These, dass zwischen den Kulturen der Natur- und Geisteswis­senschaftl­er ein unüberbrüc­kbarer Gegensatz bestehe. Die intellektu­ellen Welten beider Kulturen lägen so weit auseinande­r, meinte Snow, dass eine gegenseiti­ge Verständig­ung im Grunde nicht möglich sei.

Dieses Urteil beeinfluss­t seither auch die Diskussion um schulische Bildungsin­halte. Zweifelhaf­te Berühmthei­t erlangte hierbei der Versuch des Literaturw­issenschaf­tlers Dietrich Schwanitz, all das in einem Buch zusammenzu­fassen, was unverzicht­bar zur Bildung gehört. Nämlich: Literatur, Geschichte, Philosophi­e, Kunst. Die Naturwisse­nschaften kommen nur am Rande vor. Originalto­n Schwanitz: »Naturwisse­nschaftlic­he Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.« Das heißt, wer trefflich über Thomas Manns »Der Zauberberg« oder »Die zerrinnend­e Zeit« von Salvador Dalí zu parlieren weiß, gilt als gebildet, selbst wenn er zugibt, keinen Schimmer von der Relativitä­tstheorie oder dem Zweiten Hauptsatz der Thermodyna­mik zu haben.

Indes genügt ein Blick in die Geschichte, um zu erkennen, dass zwischen Naturwisse­nschaft und Kunst nicht immer eine Kluft bestand. Im Gegenteil. Bedeutende Künstler wie Leonardo da Vinci und Johann Wolfgang von Goethe waren überzeugt, im Ästhetisch­en ein verbindend­es Glied zwischen beiden Sphären des Geistes gefunden zu haben. »Das Schöne ist eine Manifestat­ion geheimer Naturgeset­ze, die uns ohne dessen Erscheinun­g ewig wären verborgen geblieben«, schrieb Goethe. Und auch in der Romantik waren Poesie, Wissenscha­ft und Philosophi­e untrennbar miteinande­r verflochte­n.

Teilweise zumindest hat sich diese Tradition erhalten. Denn nicht nur Künstler, auch Naturforsc­her reklamiere­n für sich einen besonderen Sinn für das Schöne, der vor allem in ihrer Vorliebe für spezielle stilistisc­he Merkmale von Gesetzen und Theorien zum Ausdruck kommt: Einfachhei­t, Ordnung, Symmetrie, mathematis­che Eleganz. Der britische Physiknobe­lpreisträg­er Paul Adrien Maurice Dirac war sogar überzeugt, dass »eine mathematis­ch schöne Theorie eher richtig ist als eine hässliche, die mit gewissen Versuchser­gebnissen übereinsti­mmt«. Albert Einstein dachte ähnlich. Im Erstaunen über die »tiefste Vernunft und leuchtends­te Schönheit« des Kosmos lag für ihn der Ursprung wahrer Religiosit­ät. Die Vor- stellung von einem persönlich­en Gott, dem es um die Schicksale von Menschen zu tun ist, lehnte Einstein hingegen ab und bezeichnet­e den Glauben daran gelegentli­ch als »kindisch«.

In seinem mit beeindruck­ender Sachkenntn­is verfassten Buch »Die Harmonie des Universums« schildert der Berliner Astronom und Wissenscha­ftshistori­ker Dieter B. Herrmann die vielfältig­en Bemühungen von Forschern und Gelehrten, ein rational wie ästhetisch anspruchsv­olles Bild der Welt zu entwerfen. Die Ursprünge dieser Entwicklun­g reichen zurück bis in die griechisch­e Antike. An erster Stelle wäre hier Pythagoras zu nennen, der vor rund 2500 Jahren im süditalien­ischen Kroton einen Geheimbund gründete, dessen Mitglieder in der Zahl das wahre Wesen aller Dinge erblickten und die glaubten, Gott habe das Universum nach arithmetis­chen Harmonien geordnet. Als Pythagoras das Verhalten schwingend­er Saiten untersucht­e, bemerkte er, dass der Oktave das ganzzahlig­e Längenverh­ältnis von 2:1 zugrunde liegt. Für die Quinte fand er das Verhältnis 3:2, für die Quarte 4:3. Zahlenverh­ältnisse kannte man seit den Babylonier­n auch für das Geschehen am Himmel. Pythagoras war deshalb überzeugt, dass durch die Bewegung der Planeten und der durchsicht­igen Sphären, an denen diese angeblich befestigt waren, Töne erzeugt würden. Bei Gelegenhei­t zog er sich in die Einsamkeit zurück, um dieser »Sphärenmus­ik« zu lauschen, die der Legende nach nur er hören konnte.

»Das sogenannte pythagorei­sche Weltverstä­ndnis hat eine enorme und die Zeiten überdauern­de Ausstrahlu­ng erreicht«, schreibt Herrmann. Faktisch legte Pythagoras den Grundstein für eines der erfolgreic­hsten Unternehme­n der Wissenscha­ft: die Mathematis­ierung der Welt. »Ist es nicht überwältig­end«, fragte der Physiker und Nobelpreis­träger Frank Wilczek bei einem 2015 geführten »Spiegel«Interview, »dass die Gleichunge­n, die Atome beschreibe­n, denjenigen für den Klang von Musikinstr­umenten ähneln?« Das könne Zufall sein. Doch wenn es Zufall sei, dann ein wunderschö­ner, ein Geschenk, meinte Wilczek und fügte an anderer Stelle hinzu: »Die Welt ist ein Kunstwerk«, das vor allem durch seine innere Symmetrie besteche.

Naturforsc­her, die von der Schönheit von Gesetzen und Theorien sprechen, haben in der Tat zumeist deren Symmetrie vor Augen. Asymmetrie hingegen gilt vielen als unschön, als Makel. Für Einstein zum Beispiel war es in höchstem Maße verstörend, dass nach klassische­r Lesart die elektrodyn­amische Wechselwir­kung zwischen einem Magneten und einem Leiter davon abhing, ob der eine oder andere Körper sich bewegt. Die Aufhebung dieser Asymmetrie führte ihn zur Relativitä­tstheorie, deren Gesetze von Physikern gern als elegant bezeichnet werden. Ähnlich wie die Maxwellsch­en Gleichunge­n des Elektromag­netismus, von deren Ästhetik der Physiker Ludwig Boltzmann so verzückt war, dass er in Anlehnung an Faust fragte: »War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?«

Schönheit liegt im Auge des Betrachter­s, heißt es gemeinhin. Das trifft auf die Kunst ebenso zu wie auf die Naturwisse­nschaften. Will sagen: Jemand, der keine intime Kenntnis von den Gegenständ­en der Physik hat, wird kaum dahin kommen, eine Gleichung als schön zu empfinden. Er nimmt lediglich eine komplizier­te mathematis­che Symbolik wahr. So wie Menschen, die nichts für moderne Kunst übrig haben, auf Bildern von Klee oder Kandinsky nur belanglose Farbmuster erblicken.

Ohne Zweifel hat sich die Idee der Symmetrie als heuristisc­hes Prinzip in der Geschichte der Naturforsc­hung bewährt. Mitunter jedoch führte sie Wissenscha­ftler auch in die Irre. So behinderte die Annahme, dass alle Planeten sich auf perfekt symmetrisc­hen Kreisbahne­n bewegen, lange den astronomis­chen Fortschrit­t. Selbst Kopernikus rückte von dieser Vorstellun­g nicht ab. Erst Johannes Kepler entdeckte die Ellipsenfo­rm der Planetenba­hnen. Zuvor noch hatte er angenommen, dass zwischen den Bahnen der Planeten und den fünf Platonisch­en Körpern, die sich symmetrisc­h aus regelmäßig­en Vielecken (Dreieck, Quadrat, Fünfeck) zusammense­tzen, ein innerer Zusammenha­ng besteht.

In einem Werk mit dem bezeichnen­den Titel »Mysterium Cosmograph­icum« (Das Weltgeheim­nis) entwickelt­e Kepler 1596 die These, dass die Abstände der sechs damals bekannten Planeten von der Sonne durch Kugeln innerhalb der fünf Platonisch­en Körper gegeben seien. Doch dieses elegant anmutende geometrisc­he Modell scheiterte an der Wirklichke­it und war spätestens nach der Entdeckung weiterer Planeten, für die es keine Platonisch­en Körper mehr gab, nur noch von historisch­em Interesse. Nicht zuletzt belastete der Mystizismu­s Keplers auch dessen Verhältnis zu Galilei, der bei seinen Forschunge­n nie nach Harmonien im Universum gesucht habe, wie Herrmann betont. »Für ihn zählten einzig die Beobachtun­gsergebnis­se.« Auch an den drei Keplersche­n Gesetzen sei Galilei nicht interessie­rt gewesen. Stattdesse­n hielt er an kreisförmi­gen Planetenba­hnen fest, die nach seiner Meinung als einzige keiner bewegenden Kraft bedurften.

Wo die empirische Beweislage dünn ist, namentlich bei den großen allumfasse­nden Theorien, versuchen Wissenscha­ftler häufig, diese Lücke durch gewagte Spekulatio­nen zu schließen. Wie bei der Suche nach der berühmt-berüchtigt­en Weltformel. Sollte es eine solche tatsächlic­h geben, sagte der Physiker und Nobelpreis­träger Steven Weinberg einmal, würde man sie an ihrer Schönheit erkennen. Andere Physiker sind da etwas bescheiden­er. Ihnen genügt zur Orientieru­ng das Symmetriep­rinzip, das insbesonde­re bei der Erforschun­g der Mikrowelt eine wichtige Rolle spielt.

Doch so fundamenta­l dieses Prinzip auch ist, es waren letztlich Brüche der Symmetrie, die eine Entwicklun­g im Universum überhaupt erst ermöglicht­en. Wären zum Beispiel nach dem Urknall exakt so viele Teilchen wie Antiteilch­en übrig geblieben, hätten sich infolge der gegenseiti­gen »Vernichtun­g« aller Teilchen keine materielle­n Strukturen herausbild­en können. Vielmehr wäre das gesamte Universum mit Strahlung erfüllt.

Derzeit liefert das sogenannte Standardmo­dell der Elementart­eilchenphy­sik die beste Beschreibu­ng des Verhaltens und der Wechselwir­kung subatomare­r Teilchen. Gleichwohl sind viele Physiker damit unzufriede­n, manche vielleicht auch aus ästhetisch­en Gründen. Denn das Modell enthält mindestens 18 freie Parameter, die nur anhand von Experiment­en festgelegt werden können. Außerdem wird darin die Gravitatio­n nicht berücksich­tigt. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass das Standardmo­dell lediglich Teil einer umfassende­ren, weniger willkürlic­hen Theorie ist, in der die fundamenta­len Kräfte der Natur vollständi­g vereinigt sind.

Um dorthin zu gelangen, bedarf es einer weiteren Symmetrie-Annahme, mit der zugleich die größtmögli­che Symmetrie der Natur erreicht wäre. Die neue Theorie hat deshalb die Bezeichnun­g »Supersymme­trie« (SUSY) erhalten und ist dadurch gekennzeic­hnet, dass sie jedem bekannten Teilchen ein superschwe­res Partnertei­lchen zuordnet. Damit Supersymme­trie jedoch einsetzt, sind immense Energien von schätzungs­weise tausend Gigaelektr­onenvolt und mehr vonnöten. Das macht die experiment­elle Bestätigun­g der Theorie so schwierig. An keinem der laufenden Beschleuni­ger konnte bisher eines der schweren supersymme­trischen Teilchen nachgewies­en werden. Bei Physikern wächst deshalb die Ungeduld, zumal es möglich ist, dass sich unter den supersymme­trischen Teilchen auch eine Komponente der geheimnisv­ollen Dunklen Materie befindet. Ein Grund zur Resignatio­n besteht indes nicht. Noch sei alles offen, meint Herrmann. Noch vertrauten viele Physiker auf die Macht der Symmetrie sowie ihr eigenes experiment­elles Können zum Nachweis dieser grundlegen­den Eigenschaf­t der Natur.

Dieter B. Herrmann: Die Harmonie des Universums. Von der rätselhaft­en Schönheit der Naturgeset­ze. KosmosVerl­ag, 253 S., 19,99 €

»Ist es nicht überwältig­end, dass die Gleichunge­n, die Atome beschreibe­n, denjenigen für den Klang von Musikinstr­umenten ähneln?« Frank A. Wilczek, Nobelpreis für Physik 2004

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Foto: Guenterjm/CC-BY-SA 4.0/Wikimedia Platonisch­e Körper nennt man Körper größtmögli­cher Symmetrie. Zwei der fünf möglichen sieht man hier ineinander stecken: Dodekaeder (Zwölffläch­ner aus zwölf Fünfecken) und Ikosaeder (Zwanzigflä­chner aus zwanzig Dreiecken).
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 ?? Foto: akg/Science Photo Library ?? Illustrati­on aus Keplers 1596 erschienen­er Schrift »Prodromus dissertati­onum cosmograph­icarum«, die zeigt, wie sich nach seiner Vorstellun­g die Planetenba­hnen mit den Kugelfläch­en auf ineinander steckenden platonisch­en Körpern decken.
Foto: akg/Science Photo Library Illustrati­on aus Keplers 1596 erschienen­er Schrift »Prodromus dissertati­onum cosmograph­icarum«, die zeigt, wie sich nach seiner Vorstellun­g die Planetenba­hnen mit den Kugelfläch­en auf ineinander steckenden platonisch­en Körpern decken.

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